Aus Yarmouk zum Dorfleben am Desenberg
Der Pianist aus den Trümmern: Das Foto des später ums Leben gekommenen Fotografen Niraz Saied wurde auf der ganzen Welt als Zeichen gegen die Sinnlosigkeit des Krieges verstanden.Foto: Niraz Saied
Auf Papas Schoß lässt es sich prima singen: Leise, aber für seine fünf Jahre erstaunlich textsicher hebt der kleine Kinan an: "Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …" Das alte deutsche Volkslied über die Gedankenfreiheit, gegen Unterdrückung und Despoten-Willkür erklingt in der Stube des alten Wohnhauses. Papa Aeham begleitet derweil auf dem Klavier, seine Finger scheinen über den Tasten zu schweben, gleiten irgendwann ab in sanfte Molltöne und jazzige Improvisationen.
2014 ging sein Foto aus dem belagerten Yarmouk, dem Palästinenser-Viertel von Damaskus, um die Welt. Doch auch der "Pianist aus den Trümmern" musste bald aus dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. In Deutschland wohnte Aeham mit Frau Tahani, den Kindern Ahmad und Kinan sowie mit seiner Mutter und seinem blinden Vater zunächst in Wiesbaden. Irgendwann kam der Wunsch nach einem eigenen Haus, das sich in der hessischen Landeshauptstadt jedoch als unbezahlbar erwies. Selbst für einen Pianisten, der fast täglich auf Bühnen im In- und Ausland steht, aber eben auch eine große Verwandtschaft inner- und außerhalb Syriens mitversorgen muss. 2019 kam dann der Tipp von Freunden aus dem Kreis Höxter, sich dort mal nach Wohnraum umzusehen. Der Leerstand dort ist in vielen Dörfern gravierend, und so kam auch Familie Ahmad zu einem eigenen Haus zum Schnäppchenpreis. "In Wiesbaden hätte ich dafür nicht mal eine Einzimmerwohnung kaufen können."
Aeham bereut die Entscheidung nicht. Nein, abgeschnitten von der Welt sei die Familie nicht, die neben der Dorfkirche von Daseburg am Fuß des Desenbergs in der Warburger Börde wohnt. Die Internet-Verbindung funktioniert, die Bahnanschlüsse in Warburg oder auch in Kassel sind schnell zu erreichen. Das Beste sei aber das Dorfleben selbst, das die inzwischen um Töchterchen Sarah vergrößerte Familie genießt. "Im Anfang dachte ich, es wird schwierig. Meine Frau trägt schließlich Kopftuch." Aber die Menschen in dem 1400- Einwohner-Dorf seien total entspannt. Die Kinder könnten unbeschwert draußen spielen, über Kita und Schule entstünden Kontakte ebenso wie über die Musik. In der Dorfkirche gab es bereits ein Benefizkonzert, bei dem auch Aehams blinder Vater mit seiner Geige mitwirkte. Gerade für Vater Ahmad sei die Integration eine Herausforderung. "Er hört zum ersten Mal Vögel singen, die es in Syrien nicht gibt, hört fremde Motorgeräusche auf der Straße." Aeham beschreibt ihm die Natur, die Landschaft und vor allem den Desenberg, der sich als Vulkankegel, wie aus einem Fantasy-Film entsprungen, aus der ansonsten flachen Bördelandschaft erhebt.
Vater Ahmad (68) sorgte in Syrien trotz seiner Behinderung als Schreiner für das Überleben der Familie. Als Multitalent brachte er sich in Damaskus das Klavierstimmen bei und förderte mit allen Mitteln die musikalische Ausbildung seines Sohnes an Musikschule und Konservatorium. Dass Aeham dabei auch in der klassischen europäischen Musik ausgebildet wurde, war Vater Ahmad, dessen Familie 1948 aus Israel geflüchtet war, ein besonderes Anliegen. "Aeham, du sollst eine Sprache lernen, die jeder versteht", sagte der Vater seinem Sohn, wenn der sich darüber beschwerte, dass er ausgerechnet Mozart auf dem Klavier erlernen sollte, einen Musiker, der in einem palästinensischen Flüchtlingsviertel nach Aehams Meinung nun wirklich niemand kenne. Vater Ahmad duldete keine Widerrede; der Junge sollte international aufwachsen.
Mehr Flexibilität ist nötig
Aeham hat inzwischen zusammen mit Christen, Juden oder Hindus gemeinsam musiziert. "Musik wirkt wie eine Brücke", sagt er. Großartig findet er deshalb das vom Diözesan-Caritasverband Paderborn geförderte Projekt einer Musikschule in Damaskus, in der christliche und muslimische Kinder gemeinsam Instrumente erlernen. Während des Krieges im belagerten und hungernden Yarmouk hat Aeham erfahren, dass Musik noch eine andere Bedeutung hat: Sie hilft beim psychischen Überleben. Vor allem die Kinder drängten ihn, immer wieder gemeinsam auf der Straße zu singen und zu spielen. Ein zwölfjähriges Mädchen bezahlte das mit dem Leben, als ein Scharfschütze die Gruppe unter Feuer nahm. Auch der Fotograf des berühmten Bildes lebt nicht mehr, er starb in einem Gefängnis des Regimes.
Fühlt sich wohl in Warburg-Daseburg: Aeham Ahmad mit seinem zweiten Sohn KinanFoto: Jürgen Sauer
Auch Aeham hätte seine Liebe für die Musik beinahe mit dem Leben bezahlt: 2015 hatten die Islamisten des IS die Kontrolle über Yarmouk übernommen. Als er eines Tages mit seinem Vater das Klavier über die Straße schob, wurde er von einem IS-Kämpfer angehalten. Hätte nicht sein Vater gelogen und behauptet, sein Sohn sei nur der Helfer zum Klavierschieben, wäre Aeham heute nicht mehr am Leben. Mit jungen Musikern machte der IS kurzen Prozess, mit alten Männern hatte man Erbarmen. So wurde "nur" sein Klavier mit Benzin übergossen und angezündet. In dem Augenblick wusste Aeham, dass er fliehen musste. Ein erster Versuch mit Frau und Kindern endete für alle im Gefängnis von Homs, das sie zum Glück nach nur wenigen Tagen verlassen konnten. Den zweiten Versuch wagte Aeham allein: Über die Türkei, die griechische Insel Lesbos und die Balkanroute gelangte er im Herbst 2015 nach Deutschland - das Land seiner Hoffnung, von dem in jenen Monaten Bilder um die Welt gingen mit der für junge Syrer wie Aeham unglaublichen Botschaft: Refugees welcome!
Taugt Musik auch für die Integration von Flüchtlingen? Für Aeham lässt sich dies nicht pauschal beantworten. Denn Integration hängt für ihn in erster Linie von individueller menschlicher Begegnung ab. Konkret: Ob Flüchtlinge auf Menschen träfen, die ihnen auf einem Stück ihres Weges zur Seite ständen, sei Voraussetzung dafür, ob Integration gelinge oder nicht. In seinem Fall sind es sogar sehr viele Menschen, die sich ehrenamtlich für ihn einsetzen, die geduldig erklären, was Behörden von ihm wollen, die darauf achten, dass die finanziellen Dinge geregelt sind. Aber er kennt auch viele Flüchtlinge, die nicht so viel Glück hatten. Menschen, die schwer traumatisiert sind, weil sie auf ihrer Flucht mit ansehen mussten, wie drei ihrer vier Kinder in der Ägäis ertrunken sind. "Solche Menschen brauchen nicht allein einen Sprachkurs."
Nein, das sture Abarbeiten von amtlich vorgesehenen Integrationsangeboten ist für ihn nicht hilfreich. Ebenso wenig wie Sprachkurse, die rein gar nichts mit dem Alltag zu tun haben. Sinnvoller sei es, Flüchtlinge von vornherein arbeiten zu lassen und während dieser Arbeit ein auf die Tätigkeit bezogenes Sprachtraining zu ermöglichen. Auch die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen sollte flexibler geregelt werden. Wer in Syrien Elektriker gelernt hat, sollte hier auch problemlos arbeiten dürfen. "Strom ist Strom, ob in Deutschland oder Syrien." Flexibilität ist für ihn, der das Improvisieren und Zusammenführen von Stilrichtungen in der Musik liebt, der Königsweg. Selbst so bekannte Melodien wie "Die Gedanken sind frei" klingen dann plötzlich total interessant.