Vermögen gerecht verteilen und Zusammenhalt sichern
Der Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung macht auf offensichtliche Fehlentwicklungen aufmerksam: Die Ungleichheit der Vermögensverteilung hat nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Hier besteht dringend Handlungsbedarf, da die wachsende Ungleichheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Solidarität in der Gesellschaft gefährdet. Um die staatliche Handlungsfähigkeit in Zeiten der hohen Staatsverschuldung zu gewährleisten, schlägt die Caritas hier die Anhebung der Steuersätze bei der Einkommensteuer für Besserverdienende und Veränderungen bei der Abgeltungsteuer und der Erbschaftsteuer vor.
Erschreckend ist der starke Einfluss der sozialen Herkunft auf Bildungschancen von jungen Menschen. Von Kindern, deren Mütter das Abitur haben, besuchen zwei Drittel das Gymnasium. Haben Mütter maximal einen Hauptschulabschluss, besuchen nur etwa zehn Prozent ihrer Kinder ein Gymnasium. Auch der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die mit 25 bis 35 Jahren keinen Berufsabschluss haben, ist trotz eines leichten Rückgangs mit knapp einem Drittel (31 Prozent) immer noch sehr hoch. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Der Bericht kann aber auch einige Erfolge in der Armutsbekämpfung aufzeigen. So ist die Zahl der Arbeitslosen und auch der Langzeitarbeitslosen zurückgegangen. Die Armutsrisikoquote hat sich seit 2005 bei rund 14 bis 16 Prozent stabilisiert, sie ist also nicht weiter angestiegen. Auch die Quote der Schulabgänger(innen) ohne Hauptschulabschluss ist bundesweit kontinuierlich auf 6,5 Prozent gesunken.
In der Debatte zu den Konsequenzen des 4. Armuts- und Reichtumsberichts müssen folgende Fragen aufgegriffen werden:
- Was wird nun wirklich unternommen, damit benachteiligte Jugendliche befähigt werden?
- Wo werden die Aktivitäten koordiniert?
- Wer zeigt den politischen Willen, die Situation der Jugendlichen wirklich zu verbessern?
Diese Fragen werden die staatliche Politik, aber auch andere gesellschaftliche Kräfte einschließlich der Caritas herausfordern. Im Folgenden werden aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes (DCV) die Ergebnisse und die von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen im Armuts- und Reichtumsbericht bewertet. Dies erfolgt mit der Intention, lösungsorientiert zu weiteren Schritten bei der Armutsbekämpfung beizutragen. Dabei wird besonderer Wert auf befähigende Ansätze gelegt.
Im Folgenden lesen Sie die Bewertungen des Deutschen Caritasverbandes zu den Themenfeldern des 4. Armuts- und Reichtumsberichtes:
Armutsrisiken spezifisch bekämpfen und Regelbedarfe verbessern
Die Bekämpfung der Armutsrisiken muss spezifisch an den Bedarfen der betroffenen Bevölkerungsgruppen ansetzen. Die Armutsrisikoquoten in der Gesamtbevölkerung liegen nach dem Bericht im Schnitt der letzten Jahre stabil bei 14 bis 16 Prozent, je nach Datenbasis. Einzelne Bevölkerungsgruppen haben jedoch ein deutlich höheres Armutsrisiko (zum Beispiel Alleinlebende 25 bis 32 Prozent, Alleinerziehende 37 bis 52 Prozent). Neben dem relativ zum mittleren Einkommen berechneten Armutsrisiko gibt es in Deutschland noch die faktische Armutsgrenze, die sich aus der anerkannten Hilfebedürftigkeit in der Grundsicherung ergibt. Die Grundsicherung und die Sozialhilfe bilden das unterste soziale Netz. Um sicherzustellen, dass die Regelbedarfe den Bedarf der Personen, die von Armut betroffen sind, auch tatsächlich decken, sind sie weiterzuentwickeln. Durch die Aufnahme weiterer Ausgabenkategorien in die Bemessung würde der Regelsatz flexibler, so dass ein Ausgleich zwischen den Bedarfen wieder möglich wäre. Zudem müssen wieder, wie dies bis 2010 gegeben war, die untersten 20 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Haushalte als Referenzgruppe herangezogen werden. Verdeckt arme Menschen sind vorher aus dieser Gruppe herauszunehmen. Besorgniserregend ist, dass die Bundesregierung sich für die nächste EVS-Auswertung noch kein Verfahren zur Bereinigung der Referenzgruppe um die Haushalte von verdeckt armen Menschen zu eigen gemacht hat.
Soziale Ungleichheit mindern
Die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Staatsverschuldung deutlich erhöht. Dies gefährdet die Handlungsfähigkeit des Staates heute und in künftigen Krisen. Zur Entschärfung kann eine Erhöhung der Steuern auf hohe Einkommen und Vermögenserträge beitragen. Dies ist auch angesichts der nachweislich des neuen Armuts- und Reichtumsberichts deutlich gestiegenen Ungleichheit der Vermögensverteilung (EVS-Daten) in den letzten Jahren gerecht. Die heute bestehende Einkommensungleichheit geht sowohl auf Änderungen im Steuerrecht als auch auf die Spreizung der Bruttoeinkommen zurück. Eine weiter wachsende soziale Ungleichheit gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Solidarität in der Gesellschaft, so dass hier Handlungsbedarf besteht. Die Caritas schlägt insbesondere die Anhebung der Steuersätze bei der Einkommensteuer bei Besserverdienenden, bei der Abgeltungsteuer und bei der Erbschaftsteuer vor. Zudem regt sie die Einführung einer Finanzaktivitätsteuer, die Reduzierung von Steuervergünstigungen und die Bildung von Rücklagen für Beamtenpensionen an. Allerdings dürfen mit den notwendigen Schritten keine illusionären Erwartungen verbunden werden. Sie werden zu einer höheren staatlichen Handlungsfähigkeit beitragen und Spielräume für eine gewisse Entschuldung der öffentlichen Haushalte schaffen, aber die Finanzsituation des Staates nicht grundlegend ändern. Steuererhöhungen machen somit eine Begrenzung der Ausgaben und eine Steigerung der Effizienz staatlichen Handelns nicht überflüssig. Im Sozialbereich kann dies gelingen, wenn Prävention gefördert wird, um soziale Notlagen zu verhindern, und dazu beigetragen wird, dass jeder seine Potenziale entfalten kann.
Vererbung von Armut aufhalten, sozialen Aufstieg über die Generationen ermöglichen
Um den sozialen Aufstieg von einer zur nächsten Generation zu ermöglichen, muss vor allem das Bildungssystem Chancengerechtigkeit bieten. Die Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder aus einkommensarmen Familien müssen verbessert werden. Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund brauchen bessere Unterstützung. Es darf nicht wie in den letzten Dekaden mehr oder weniger konstant so sein, dass Kinder von ungelernten Arbeitern – wie der Bericht zeigt – zu 31 Prozent ebenso ungelernte Arbeiter werden. Bei Kindern aller anderen Haushalte sind es nur rund halb so viele, also 14 Prozent. Haben die Kinder Abitur, nehmen nur etwa 50 Prozent von ihnen ein Studium auf, wenn die Eltern maximal einen Hauptschulabschluss haben. Sind die Eltern indes Akademiker, studieren knapp 80 Prozent ihrer Kinder nach dem Abitur.1 Diese Zahl nennt der Bericht aber nicht. Die immer noch hohe Vererbung von Bildungs- und Entwicklungschancen sieht die Caritas mit Sorge, da sie einer durchlässigen Gesellschaft entgegensteht.
Dauerhafte Armut bekämpfen – soziale Mobilität fördern
In dauerhafter Armut leben 7,9 Prozent der Menschen in Deutschland. Bei den Kindern waren es in den Jahren 2000 bis 2009 mehr als zwölf Prozent. Dauerhaft arm sind Menschen, die aktuell und in zwei von drei Vorjahren unter der Armutsrisikogrenze leb(t)en. Außerdem lebten im Jahr 2011 knapp 1,5 Millionen Menschen seit 2005 ununterbrochen im Bezug von Arbeitslosengeld II, worauf der Bericht allerdings nicht hinweist. Entscheidende Faktoren für dauerhafte Armut sind nach dem Bericht der Bildungs- oder Berufsabschluss2, ein Migrationshintergrund, Alleinerziehenden- oder Einpersonenhaushalte. Nach Ansicht der Caritas muss gerade bei diesen Menschen sichergestellt sein, dass sie nicht durch knappe Regelsätze ohne Flexibilitätsreserve und aufgrund von Rückzahlungsverpflichtungen für Darlehen dauerhaft unterhalb des Existenzminimums leben. Erforderlich sind nachholende Bildungsabschlüsse. Für Menschen mit verfestigten Vermittlungshemmnissen sind neue, spezifische, längerfristige und marktnahe Fördermaßnahmen einzuführen, um sie Schritt für Schritt ins Erwerbsleben zurückzuführen.
Zugang zu Kindertagesstätten für alle benachteiligten Kinder sichern
Um Bildungschancen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu verbessern, sind präventive Bildungs- und Unterstützungsangebote (beispielsweise Frühe Hilfen) auszubauen. Der vereinbarte Ausbau der Kinderbetreuung muss – auch aus Gründen der Eröffnung von Bildungschancen – durchgesetzt werden. Hierbei ist nicht nur auf die Quantität der Betreuung, sondern auch auf die Qualität zu achten. Der Bericht wiederholt die Erkenntnis, dass in Deutschland die soziale Herkunft den Bildungserfolg eines Kindes zu stark prägt. Kinder bildungsferner oder einkommensschwacher Eltern besuchen nach dem Bericht Kindertageseinrichtungen seltener und kürzer. Hier werden Bildungschancen verpasst. Die Caritas nimmt sich auch selbst in die Pflicht, die Arbeit in den Kindertageseinrichtungen spezifischer auf benachteiligte Kinder auszurichten.
Ganztagsschulen ausbauen
Die Caritas unterstützt die Forderung der Bundesregierung nach einem Ausbau der Ganztagsschulen (vgl. die bildungspolitischen Positionen des DCV unter www.caritas.de/bildungspolitische_position_2011). Der Bericht stellt fest, dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche am ehesten schulische Angebote der Freizeitgestaltung in Anspruch nehmen, wenn diese kostenfrei sind. Ganztagsschulen bieten die Möglichkeit, Kinder individueller zu fördern (etwa durch individuelle Lernpläne) und gerade benachteiligten jungen Menschen kostenfreie sportliche, musische und kulturelle Angebote zu eröffnen.
Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss wirksam verringern
Um die Zahl der Schulabgänger(innen) ohne Hauptschulabschluss wirksam zu verringern, müssen Bund und Länder die lokale Ebene dabei unterstützen, fördernde Maßnahmen für Kinder und Eltern einzurichten. In diesem Zusammenhang müssen auch Kooperationen zwischen Bund und Kommunen im Bildungsbereich in stärkerem Maße verfassungsrechtlich ermöglicht werden. Auch die Einflüsse der jeweiligen Bildungssysteme der Länder auf die Quote sind zu analysieren. Der Anteil der Schulabgänger(innen) ohne Hauptschulabschluss ist von acht Prozent im Jahr 2006 auf 6,5 Prozent im Jahr 2011 zurückgegangen. Gleichwohl bestehen nach einer Datenanalyse der Caritas vor Ort erhebliche Unterschiede: Die Quoten für das Jahr 2009 schwanken je nach Region zwischen den Extremwerten von 2,4 Prozent bis 26,6 Prozent. Neben dem Bildungssystem sind die örtlichen Bedingungen dafür ursächlich. Wo ein politischer Wille besteht, diese zu verbessern, haben sich folgende Maßnahmen als effektiv zur Verringerung der Quote erwiesen: Kooperationsstrukturen zwischen den Beteiligten, frühe, präventive Unterstützung der Kinder und ihrer Familien, verlässliche Schulsozialarbeit, intensive Begleitung schulmüder Jugendlicher sowie eine frühe Berufsorientierung sind hier wichtige Schritte (vgl. Deutscher Caritasverband: Studie zu Bildungschancen – Was wirklich zählt, www.caritas.de/bildungschancen).
Lernförderung für benachteiligte Schüler erweitern
Die Lernförderung in den Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder und Jugendliche im Transferleistungsbezug sollte auch zum Erreichen einer besseren Schulartempfehlung abrufbar sein. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dies bereits in seiner Arbeitshilfe grundsätzlich ermöglicht. Derzeit ist sie ansonsten nur bei Versetzungsgefahr vorgesehen. Nach dem Bericht nehmen nur zwei Prozent der leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen die Lernförderung in Anspruch. Hier besteht Nachbesserungsbedarf, damit die Abhängigkeit der Bildungschancen eines Kindes von der sozialen Herkunft abgemildert wird.
Förderangebote flexibel an die Bedarfe junger Menschen anpassen
Der Deutsche Caritasverband setzt sich dafür ein, dass Jugendliche ein verlässliches, flexibles und passgenaues Förderangebot beim Übergang von der Schule in den Beruf erhalten. Ein kohärentes Fördersystem ist über örtliche Koordinierungsstellen aufzubauen. Ebenso nötig ist mehr Flexibilität in den Fördermaßnahmen, insbesondere beim Nachholen des Schulabschlusses und in der Kombination von Förderbausteinen. Die Aussichten auf einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss sind nach dem Bericht gerade für Jugendliche schlecht, die keinen Schulabschluss oder nur einen Hauptschulabschluss haben. Besonders benachteiligt sind junge Menschen mit Migrationshintergrund, die bei gleichen schulischen Voraussetzungen schlechtere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt haben. Rund 40 Prozent von ihnen hatten nach dem Bericht zweieinhalb Jahre nach der Schule noch keinen Ausbildungsplatz. Die Schwächen des Systems liegen darin, dass die Angebote oftmals nicht miteinander abgestimmt und nicht konsequent an den individuellen Förderbedarfen benachteiligter junger Menschen orientiert sind.
Berufsorientierung verbessern
Das Fehlen eines klaren Berufswunsches beeinträchtigt die Chancen auf einen Ausbildungsplatz nach dem Bericht erheblich. Abhilfe kann nur eine fundierte Berufsorientierung schaffen, die aber derzeit zu unkoordiniert, unübersichtlich und oftmals ohne Beteiligung der Eltern stattfindet. Die Berufsorientierung an den Schulen muss deutlich verbessert werden. Notwendig sind ein strukturiertes Gesamtkonzept, Informationsangebote zur Erkundung von Berufsbildern, praktische Erfahrungsräume (beispielsweise Praktika) für die Schüler(innen), Raum für Reflexion und die Einladung der Eltern.
Verlässliche Ansprechpersonen und assistierte Ausbildung fördern
Es muss vermehrt in verlässliche Begleitangebote und assistierte Ausbildungskonzepte investiert werden. Eine verlässliche Begleitung junger Menschen unterstützt den Übergang in die Ausbildung sehr. Dies wird auch im Bericht betont. Gerade benachteiligten Jugendlichen fehlt indes eine solche Unterstützung beim Übergang von der Schule in den Beruf. Neben einer professionellen Begleitung durch verlässliche Personen sind ehrenamtliche Ausbildungspatenschaften ein wichtiges Angebot. Für junge Menschen, die eine sehr intensive Begleitung während der Ausbildung brauchen, haben sich assistierte Ausbildungskonzepte bewährt, bei denen Betriebe und Auszubildende individuelle unterstützende Dienstleistungen zur Sicherung des Ausbildungserfolges durch die Jugendberufshilfe erhalten.
Arbeitsmarktferne Menschen besser in den Arbeitsmarkt integrieren
Die Instrumente zur Förderung arbeitsmarktferner Menschen, insbesondere die öffentlich geförderte Beschäftigung, wurden durch die jüngste Reform deutlich beschnitten und zurückgefahren. Sie sind nicht passgenau, um arbeitsmarktfernen Menschen Teilhabe zu ermöglichen und sie Schritt für Schritt (wieder) in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Zur Integration von arbeitsmarktfernen Menschen sind die bestehenden Förderinstrumente weiterzuentwickeln und zu ergänzen. Eine öffentlich geförderte Beschäftigung mit hohem Lohnzuschuss und einer intensiven sozialpädagogischen Begleitung, finanziert über einen Transfer von Mitteln aus der passiven Leistungsgewährung zu aktiven Leistungen, kann auf eine sehr enge Zielgruppe beschränkt sein. Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung sind marktnäher auszurichten und für alle Arbeitgeber zu öffnen. Die Tätigkeitsfelder sind im lokalen Konsens vor Ort festzulegen..
Existenz von einkommensschwachen Familien besser absichern
Die existenziellen Bedarfe von Familien im Niedrigeinkommensbereich sollten vermehrt über eine eigene einkommensabhängige Kindergrundsicherung finanziert werden. Dafür ist der Kinderzuschlag deutlich auszubauen, indem die Begrenzung durch eine Höchsteinkommensgrenze entfällt und die Abschmelzrate sinkt (vgl. Konzept des DCV zur Bekämpfung von Kinderarmut: www.caritas.de/kinderarmut_spezial). Von den Familien in Deutschland sind nach dem Bericht Alleinerziehende, Familien mit Migrationshintergrund und Mehrkindfamilien besonders armutsgefährdet. Kinder aus diesen Familien weisen zudem geringere Bildungschancen, einen schlechteren Gesundheitszustand und eine geringere soziale Teilhabe auf als Kinder aus wohlhabenderen Familien. Gerade Paare, die ihren Lebensunterhalt aus ihrem Einkommen sichern können, sollen mit der Geburt ihrer Kinder nicht auf das System des SGB II mit all seinen Restriktionen angewiesen sein.
Eltern- und Betreuungsgeld zu dreijährigem Familienleistungsausgleich weiterentwickeln
Das Elterngeld könnte zusammen mit dem Betreuungsgeld als einkommensunabhängiger Familienleistungsausgleich für alle Familien weiterentwickelt werden. Unabhängig von der Inanspruchnahme einer öffentlich geförderten Kinderbetreuung könnte es in der Höhe des derzeitigen Elterngeld-Sockelbetrags von 300 Euro für die ersten drei Jahre gewährt werden. Die Leistung sollte in Höhe des Sockelbetrags nicht auf SGB-II- und SGB-XII-Leistungen sowie den Kinderzuschlag angerechnet werden, um auch einkommensschwache Familien zu erreichen. Derzeit erhalten Familien nur im ersten Lebensjahr des Kindes Elterngeld. Dieses kommt betreuenden Elternteilen im Arbeitslosengeld-II-Bezug indes letztlich nicht zugute, wenn sie vor Geburt nicht erwerbstätig waren. Das gezahlte Elterngeld mindert bei ihnen in vollem Umfang das Arbeitslosengeld II. Das Elterngeld muss auch Familien erreichen, die von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder Kinderzuschlag leben. Nach Ansicht der Caritas ist darüber hinaus das, was Familien leisten, nicht nur im ersten, sondern in den ersten drei Lebensjahren besonders zu honorieren.
Ausbildung und Erwerbstätigkeit familienfreundlich gestalten
Zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Ausbau von Qualifizierungs‑, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen in Teilzeit ebenso notwendig wie mehr Arbeitsplätze mit familienfreundlichen Arbeitszeiten. Auf die Leistungen bei Familienpflegezeit soll aus Sicht der Caritas für pflegende Angehörige ein Rechtsanspruch eingeführt werden. Bislang ist nach dem Bericht nur ein Drittel der Familien mit ihren Arbeitszeiten zufrieden. 20 Prozent der Mütter, die mehrheitlich in Teilzeit arbeiten, würden ihre Wochenstundenzahl am liebsten erhöhen. 60 Prozent der Väter und 41 Prozent der vollzeitbeschäftigten Mütter würden gerne weniger arbeiten. Familienfreundliche Qualifizierungs- und Ausbildungsplätze sind rar. Nach Ansicht der Caritas sind insbesondere Arbeitgeber und Bildungsträger gefordert, hier Abhilfe zu schaffen. Zeitkonten, die die Phase der Familienpflege überbrücken, und andere Regelungen, die bislang vom Einverständnis des Arbeitgebers abhängen, führen bislang nicht zu nennenswerten Verbesserungen für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf bei pflegenden Angehörigen..
Alleinerziehende in ihrer Erwerbstätigkeit und ihren familiären Aufgaben besser unterstützen
Das Armutsrisiko der Familien, in denen die Mütter alleinerziehend sind, ist nach dem Bericht erheblich höher als das der Paarfamilien. Zwar steigt die Erwerbstätigenquote alleinerziehender Mütter mit ihrem Bildungsstand und dem Alter des jüngsten Kindes; außerdem arbeiten alleinerziehende Mütter häufiger in Vollzeit als Mütter in Paarfamilien. Insgesamt sind alleinerziehende Mütter aber seltener erwerbstätig, und wenn, reicht ihr Erwerbseinkommen insbesondere bei Teilzeitarbeit trotzdem oftmals nicht aus, um die Familie zu ernähren. Alleinerziehende, die sich beruflich qualifizieren wollen, profitieren von Teilzeitausbildungen und Formen des Nachholens von Schulabschlüssen, die ihre Zeitbedarfe berücksichtigen. Auch das Unterhaltsrecht sollte Teilzeitarbeit ermöglichen. Seit 2008 haben geschiedene Alleinerziehende nur noch bis zum dritten Lebensjahr ihres Kindes einen Anspruch auf den Betreuungsunterhalt. Danach gilt für den alleinerziehenden Elternteil die Vollzeit-Erwerbspflicht, wenn eine Betreuungsmöglichkeit gegeben ist. Wenn eine Alleinerziehende aus triftigen Gründen nur Teilzeit arbeiten kann, sollte dies anerkannt werden und ihr Unterhalt über den ehemaligen Partner entsprechend auch über das dritte Jahr des Kindes hinaus gewährleistet sein. Der Ansatz der Bundesregierung, Rückkehrmöglichkeiten aus Teilzeit- in Vollzeittätigkeit zu verbessern, ist richtig. Darüber hinaus braucht es zugängliche Kinderbetreuungsangebote mit ganztägigen Betreuungszeiten für Kinder aller Altersgruppen, weil gute und flexible Kinderbetreuungsmöglichkeiten noch nicht flächendeckend zur Verfügung stehen.
Alleinerziehende finanziell besser absichern und neue Partnerschaften nicht verhindern
Wenn Alleinerziehende mit einem neuen Partner zusammenziehen, sollte dieser nicht mehr verpflichtet sein, für den Lebensunterhalt der Kinder zu sorgen. Etwa die Hälfte der Alleinerziehenden ist nach dem Bericht nach acht Jahren immer noch alleinerziehend und jede Dritte von ihnen lebt mit ihrem Partner nicht zusammen. Eine Ursache dafür ist die Regelung, dass der neue Partner auch für die Kinder aufkommen muss, sobald ein gemeinsamer Haushalt besteht, und das Jobcenter seine Zahlungen entsprechend reduziert. Dies hindert Alleinerziehende daran, diese Phase zu überwinden.
Der Unterhaltsvorschuss muss verlängert werden und für Kinder bis zur Volljährigkeit gelten. Denn sobald die Kinder älter sind, verlieren Alleinerziehende den Unterhaltsvorschuss des Jugendamts, das fehlende Unterhaltszahlungen des getrennt lebenden Elternteils ausgleicht (und die ausstehenden Zahlungen wenn möglich beim unterhaltspflichtigen Elternteil eintreibt). Dieser wird derzeit nur maximal sechs Jahre lang gezahlt und erreicht daher Alleinerziehende zu wenig.
Verdeckte Armut älterer Menschen bekämpfen
Die verdeckte Armut von älteren Menschen muss offengelegt werden. Dieses Phänomen wird im Bericht nicht erwähnt. Verdeckt Arme müssen über ihre Rechte besser aufgeklärt werden, damit sie die Angst davor überwinden, Grundsicherung zu beantragen. Rund 60 Prozent der über 65-Jährigen, die anspruchsberechtigt sind, stellen aus Unwissenheit und Scham keinen Antrag.
Menschen mit niedrigem Einkommen müssen für das Alter besser abgesichert sein
Wer früh privat vorsorgt, dem sollte auch ein Teil der Erträge daraus zusätzlich verbleiben, selbst wenn er Grundsicherung beziehen muss. Derzeit lohnt sich private Vorsorge für Niedrigeinkommensbezieher(innen) nicht, da private Renten im Alter in vollem Umfang die Grundsicherung mindern. Ein Freibetrag von 100 Euro würde glaubhaft vermitteln, dass private Vorsorge sich auch für Personen auszahlt, die nicht erwarten, Rentenansprüche oberhalb der Grundsicherung zu erwerben. Die geplante Lebensleistungsrente sollte so ausgestaltet werden, dass sie (anteilig) auch Menschen erreichen kann, die gewisse Brüche in ihrer Erwerbsbiografie nicht vermeiden konnten. Der jetzige Vorschlag ist ein "Alles-oder-nichts-System": Jeglicher Anspruch auf eine Zuschussrente entfällt, wenn die Voraussetzungen auch nur geringfügig verfehlt werden.
Pflege und Kindererziehung stärker honorieren
Die Erziehung von Kindern und Pflegezeiten müssen in der Rentenversicherung besser honoriert werden. Wer vor 1992 Kinder bekommen hat, erhält hierfür bisher deutlich weniger Anwartschaften gutgeschrieben als bei späterer Geburt. Die Caritas begrüßt, dass nach dem Bericht die Bundesregierung zumindest für Mehrkindfamilien die finanziellen Spielräume für eine bessere Honorierung dieser Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung prüfen will.
Soziale Teilhabe im Alter ernst nehmen
Ein Drittel der über 65-Jährigen hat nach dem Bericht noch nicht einmal einen einzigen Kontakt im Monat zu einem ihm nahestehenden Menschen. Diese Menschen dürfen nicht alleingelassen werden. Staat und Zivilgesellschaft müssen ehrenamtliche Strukturen von und für Ältere stützen. Auch jede(r) Einzelne ist aufgerufen, soziale Beziehungen schon vor Eintritt ins Rentenalter aufzubauen und zu pflegen, um im Alter nicht allein zu sein. Es bedarf mehr altersgerechter Wohnungen, besseren Zugangs zu Gesundheitsleistungen für Ärmere und wohnortnäherer Infrastruktur in ländlichen Regionen. Nur ein Prozent der Wohnungen in Deutschland ist altersgerecht ausgestattet. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit, altersgerecht zu planen, muss bei privaten Entscheidern deutlich gefördert werden. In den dünn besiedelten ländlichen Räumen ist die Versorgung zunehmend schwierig. Auch die Bundesregierung sieht diese Probleme und Förderbedarfe. Zur Lösung bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung.
Gesundheitsprävention für Benachteiligte ausbauen
Sozial benachteiligte Menschen sind nach dem Bericht von bestimmten Krankheiten nach wie vor stärker betroffen als andere und verfügen über weniger Bewältigungsstrategien. Sie erkranken früher an chronischen Krankheiten und sind gesundheitlich stärker belastet als Personen mit höherem Einkommen. Zum Abbau des Einflusses des sozioökonomischen Status auf den Gesundheitszustand braucht es verbesserte präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen. Dazu gehören zum Beispiel flächendeckende und auf benachteiligte Kinder zugeschnittene Programme in Schulen und Kindertagesstätten zum Thema Ernährung und Bewegung. Die Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen, die sozial benachteiligten Menschen den Zugang zu gesundheitlichen Leistungen erschweren, müssen für Grundsicherungsbezieher(innen) abgebaut, niedrigschwellige Hilfen ausgebaut werden.
Die Existenz von Menschen im Asylbewerberleistungsgesetz gleichwertig sichern
Die Caritas fordert die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), das für Asylbewerber(innen), Geduldete und Menschen mit bestimmten humanitären Aufenthaltstiteln gilt. Diese Menschen sind in das allgemeine Sozialleistungssystem einzubeziehen. Menschen mit einer Duldung müssen zumindest nach einer Mindestaufenthaltsfrist Zugang zu Leistungen nach SGB II und der Integrationskursverordnung sowie Kinder- und Elterngeld erhalten. Bildungs- und Teilhabeleistungen sind uneingeschränkt zu gewähren und Arbeitsverbote und Residenzpflicht aufzuheben. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 die Leistungen nach dem AsylbLG für verfassungswidrig erklärt und eine sofortige, rückwirkende Anhebung angeordnet, die sich am SGB XII orientieren soll. Denn die derzeitigen Sätze decken das Existenzminimum nicht. Nach dem Bericht arbeitet die Bundesregierung derzeit an einem Gesetzentwurf. Arbeitsverbote verhindern im ersten Jahr, die eigene Lage durch Erwerbstätigkeit zu verbessern. Später besteht ein nur nachrangiger Zugang zum Arbeitsmarkt. Von Menschen mit einer Duldung bleibt ein großer Teil auf Dauer in Deutschland. Um ihr Armutsrisiko zu senken, brauchen sie einen Zugang zu integrationsfördernden Leistungen, zum Arbeitsmarkt und zu Familienleistungen.
Armut von Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität bekämpfen
Um den Schulbesuch von Kindern in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität zu ermöglichen, sind vor Ort bürokratische Hindernisse zu beseitigen. Der Bericht führt an, dass die Meldepflicht der Schulen für sich hier illegal aufhaltende Kinder entfallen ist. Dies ist sehr zu begrüßen. Dennoch wird vor Ort teilweise zum Beispiel noch die Vorlage einer Meldebescheinigung verlangt. Ferner wird Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität oftmals der Arbeitslohn vorenthalten. Ein Gerichtsprozess ist ihnen wegen der Meldepflichten faktisch nicht möglich. Auch ihre gesundheitliche Versorgung ist schlecht. Diese Menschen sind in der Regel ganz besonders von Armut betroffen.
Integration in den Arbeitsmarkt fördern
Um die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt zu verbessern, muss die Diskriminierung am Arbeitsmarkt beendet werden. Der Bericht verweist in diesem Zusammenhang lediglich auf erfolgte Maßnahmen zur Erhöhung der Qualifikation, Sprachkurse und das Anerkennungsgesetz. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist jedoch insbesondere für Ausländer(innen) zu erweitern, die sich legal und absehbar auf Dauer im Bundesgebiet aufhalten. Derzeit ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für diese Menschen deutlich eingeschränkt, und auch die Fördermaßnahmen sind entweder verschlossen oder nicht passgenau. Ihre Abschlüsse werden zum Teil nicht anerkannt oder sie sind Vorurteilen ausgesetzt. Integration gelingt nach Ansicht der Caritas nur, wenn hier deutlich nachgebessert wird.
Wohnungslosigkeit gerade von jungen ALG-II-Beziehern vermeiden – gesundheitliche Versorgung wohnungsloser Menschen sicherstellen
Leistungen für Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende müssen zukünftig von Sanktionen unberührt bleiben. Der vollständige Wegfall der Regelbedarfe und die anschließende Streichung auch der Unterkunftsleistungen können gerade bei Menschen unter 25 Jahren dazu führen, dass Wohnungsverlust und Wohnungslosigkeit drohen. Die Caritas sieht diese Entwicklung mit Sorge, da mit dem Verlust der Wohnung nicht nur zusätzliche Belastungen verbunden sind, sondern auch der soziale Abstieg. Der Bericht geht auf dieses Problem nicht ein, sondern verweist bezüglich der Prävention von Wohnungslosigkeit auf die Zuständigkeit der Kommunen.
Es muss zudem sichergestellt sein, dass die niedrigschwelligen medizinischen Angebote für Wohnungslose angemessen ausgestattet und finanziert werden, so dass sie die Patient(inn)en, die zu ihnen kommen, angemessen versorgen können. Auf diese Problematik geht der Bericht nicht ein.
Mietbelastungen durch verstärkte Wohnraumförderung senken
Der Anteil der durch Mietzahlungen überlasteten Haushalte3 steigt nach dem Bericht gerade bei den Haushalten mit einem Armutsrisiko deutlich. Überdies findet in einem Teil der Städte eine zunehmende soziale Segregation statt. Um dem entgegenzuwirken, braucht es wieder vermehrt preisgünstigen Wohnraum und Investitionen in den sozialräumlichen Zusammenhalt.
Ausbildung verstärken und Gefangenenentlohnung anpassen
Die schulische und die berufliche Ausbildung während der Haft sind wichtig. Nach dem Bericht sind zwei Drittel der Gefangenen ohne Schulabschluss und daher auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur schwer vermittelbar. Der Bericht legt großen Wert auf das Übergangsmanagement der Länder bei der Haftentlassung. Die Caritas ist hier tätig und zu stärkerem Engagement bereit. Zudem fordert der Deutsche Caritasverband eine deutliche Erhöhung der Gefangenenentlohnung, wovon ein Anteil für die Zeit nach der Haftentlassung anzusparen ist. Dann könnten Inhaftierte auch die eigenen Angehörigen unterstützen oder Opferentschädigungen zahlen.
Soziale Beziehungen von Gefangenen stärken
Die Justiz muss die Gefangenen in die Lage versetzen, ihre sozialen Kontakte auch während der Haft zu pflegen. Der Bericht weist darauf hin, dass die familiäre Einbindung von Gefangenen gering ist. Die Kommunikationsmöglichkeiten von Strafgefangenen sind nach wie vor extrem eingeschränkt. Das gilt auch für Kontakte zu Partner(inne)n und Kindern, und dies gefährdet diese Beziehungen, die aber notwendig sind für das Leben nach der Haftentlassung.
Maßnahmen der Jugendhilfe für straffällige Jugendliche ausbauen
Für problembelastete junge Menschen müssen deutlich mehr Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Befähigungschancen angeboten werden. Immerhin sind nach dem Bericht 19,2 Prozent der Inhaftierten unter 25 Jahren. Korrigierende Interventionen sollten möglichst früh einsetzen. Freiheitsentziehung sollte möglichst vermieden werden. Stattdessen sind zur Nachreifung und Verhaltensänderung junger Menschen die pädagogischen Maßnahmen der Jugendhilfe anzuwenden.