Mit Klingelpädagogik für Bildungschancen
Die Pandemie hat viele Bildungs-Probleme verstärkt. Für manche junge Erwachsene ist dringend Hilfe notwendig, weil sie sich zurückgezogen haben. Was brauchen diese Jugendlichen?
Der diesjährige Berufsbildungsbericht nennt mehr als 84.000 sogenannte "unbekannt Verbliebene", zu denen weder die Arbeitsagenturen noch die Jobcenter Kontakt haben. Aus Angeboten der Jugendsozialarbeit hören wir, dass viele junge Menschen in der Pandemie schlichtweg verloren gegangen sind. Sie drohen am Übergang Schule-Beruf zu scheitern und in die Isolation zu gehen. Hinzu kommen mangelndes Selbstvertrauen und Zukunftsängste. Dafür brauchen wir dringend zusätzliche Kapazitäten der aufsuchenden Jugendsozialarbeit. Wir müssen an die Plätze gehen, wo diese jungen Menschen sich aufhalten - auf den Skateplatz, in die Innenstadt.
Wir brauchen auch mehr sogenannte "Klingelpädagogik", bei der die Sozialarbeiter_innen die Jugendlichen in den Familien aufsuchen und mit niederschwelligen Maßnahmen abholen: in Kontakt kommen. Beziehungen aufbauen. Erlebnispädagogische und handwerkliche Angebote schaffen. Selbstwirksamkeit erlebbar machen. Perspektiven aufzeigen und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Das alles ist übrigens im Corona-Aufholpaket nicht mitgedacht. Dies zu tun ist aber wichtig. Ansonsten besteht die Gefahr, dass viele junge Menschen in Folge fehlender Ausbildung beruflich abgehängt werden und deren Armutsrisiko steigt.
Besonders von Armut betroffen sind junge Menschen dann, wenn der Eintritt in Ausbildung nicht gelingt. Dies trifft insbesondere junge Menschen, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, 2020 waren dies rund 45.000. Der Übergang von Schule in den Beruf scheint ein schwieriger Schritt zu sein. Was ist der Grund?
Der Übertritt in Ausbildung ist vor allem für diejenigen jungen Menschen schwer, die bereits vor der Pandemie als benachteiligt galten. Corona hat gezeigt, dass eine verlässliche Infrastruktur von Beratungs- und Förderangeboten in allen Schularten fehlt. Beispielsweise konnte die Berufsberatung der Arbeitsagenturen nicht oder nur sehr vereinzelt stattfinden und digitale Angebote konnten dies nicht vollständig ersetzen. Vielen jungen Menschen mangelt es daher an beruflicher Orientierung.
„Wir müssen an die Plätze gehen, wo junge Menschen sich aufhalten, die Unterstützung brauchen: auf den Skateplatz, in die Innenstadt. Wir brauchen mehr sogenannte Klingelpädagogik."
Susanne Nowak, Bundesreferentin Jugendberufshilfe beim Fachverband IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit e.V.
Niedrigschwellige Angebote der Berufsorientierung in und nach den Lockdowns entfielen, weil entsprechende Räumlichkeiten an Schulen ohnehin begrenzt waren. Ebenso waren Praktika nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Sie sind aber sowohl für Bewerber*innen als auch für Ausbildungsbetriebe wichtig, um zu überprüfen, ob man zueinander passt. Auch Schulabgänger*innen mit weniger guten Noten eröffnet sich damit oft die Chance auf einen Ausbildungsplatz. Häufig stellen Betriebe fest: Die Noten sind zwar nicht so gut, aber der junge Mensch bringt andere wichtige Kompetenzen mit, die ich in meinem Betrieb sehr gut brauchen kann. Gefehlt haben in den zurückliegenden Monaten aber auch die Ausbildungsbörsen. Das ging während der Pandemie alles nicht.
Aufgefallen ist durch Corona auch, welche Bedeutung der "Berufseinstiegsbegleitung" zukommt, die in einigen Bundesländern schon vor zwei Jahren weggefallen ist. Diese Förderung beginnt bereits in den Vorabgangsklassen der weiterführenden Schulen und begleitet Schüler*innen, bei denen sich abzeichnet, dass sie den Schulabschluss ohne Unterstützung nicht schaffen werden, bis zum Ausbildungsbeginn. In der Hälfte der Bundesländer fehlt diese Unterstützung, weil die finanziellen Mittel nicht mehr bereitgestellt werden. Das muss dringend bundesweit einheitlich abgesichert werden, denn es kann nicht sein, dass Jugendliche in Norddeutschland andere Chancen haben als Jugendliche in Bayern.
Nicht alle jungen Menschen schaffen die Ausbildung problemlos und brauchen Unterstützung. Wie kann der Ausbildungserfolg erhöht werden?
Ich finde, hier ist die Assistierte Ausbildung "AsA flex" ein hervorragendes Förderinstrument, das Auszubildende und Betriebe gleichermaßen im Ausbildungsprozess unterstützt. Sowohl die Ausbildungsvorbereitung als auch die Begleitung des gesamten Ausbildungsverhältnisses bis hin zum Ausbildungsabschluss werden von Trägern, u.a. freien Trägern der Jugendhilfe, sichergestellt. Dieses Angebot sollte ausgebaut werden, damit in der aktuellen Situation mehr Unterstützung für Auszubildende und Betriebe stattfinden kann. Die ausbildenden Betriebe können die Assistenz bei der Arbeitsagentur beantragen, was vielen sicher noch unbekannt ist.
Aber derzeit finden ja nicht alle Ausbildungssuchenden eine Lehrstelle. Viele sind noch auf der Suche. Wie kann Ausbildung für alle gelingen?
Das ist richtig. Offensichtlich gehen junge Menschen, die eine Ausbildung beginnen möchten und können, bei der Ausbildungsplatzsuche leer aus. Zum Ausbildungsbeginn im August hatten laut Bundesagentur für Arbeit 162.000 Bewerber_innen noch keinen Ausbildungsplatz gefunden - trotz freier Ausbildungsstellen. Ende August ist diese Zahl mit 123.600 immer noch sehr hoch.
Ihnen muss unbedingt eine Perspektive geboten werden. Abhilfe würde ein Sofortprogramm "Außerbetriebliche Ausbildung" schaffen. Unter dem Motto: "Ausbildung für alle" könnten die Träger der Jugendhilfe bundesweit in ihren Lernwerkstätten Jugendliche in außerbetriebliche Ausbildung nehmen.
Damit könnte auch ein geeignetes Setting für junge Menschen geschaffen werden, die infolge der Pandemie sozialpädagogische Unterstützung benötigen. Nach einem Jahr müssen flexible Übergänge den Wechsel in eine betriebliche Berufsausbildung sichern. Für die Jugendlichen wäre das eine Möglichkeiten erst mal nicht auf der Straße zu stehen und die Betriebe könnten auf einen Pool von Auszubildenden zurückgreifen. Gute Erfahrungen mit diesem Modell gibt es schon lange und auch sehr erfolgreich in Österreich.
Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen überdurchschnittlich häufig eine Hauptschule. Das trifft insbesondere auf diejenigen zu, die im Kindes- oder Jugendalter nach Deutschland gekommen sind. Chancengleichheit in der Bildung - Fehlanzeige?
Kinder und Jugendliche, egal welcher Herkunft, egal welchen Milieus müssen ein Recht auf Bildung haben. Aber tatsächlich geht die Schere immer weiter auf. Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen überdurchschnittlich häufig eine Hauptschule. Bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz bleiben viele erfolglos. Dies zeigen auch die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aus dem vergangenen Jahr: Von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die sich vorab als ausbildungsinteressiert gemeldet hatten, traten nur 36 Prozent eine duale Ausbildung an - deutlich weniger als bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, mit 56 Prozent. Ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt sind eindeutig schlechter, unabhängig von ihren schulischen Leistungen. Das muss sich unbedingt ändern.
Laut OECD-Studie bleibt in Deutschland der Anteil der geringqualifizierten jungen Erwachsenen wieder fast stabil. Er liegt bei 13 Prozent. Wie kann man denjenigen helfen, die in einer besonders prekären Situation sind?
Wenn Jugendliche oder junge Erwachsene im SGB-II-Bezug sind hilft eine gute Zusammenarbeit in den Jugendberufsagenturen, also zwischen den Mitarbeitenden der Jobcenter, der Arbeitsagenturen und aus der Jugendhilfe. Eher kontraproduktiv wirken hier beispielsweise die restriktiven Sanktionsregelungen für junge Menschen unter 25 Jahren (U25), wenn sie sich nicht regelmäßig beim Jobcenter melden. Diese Sanktionen führen u.a. dazu, dass die Leistungen komplett eingestellt werden können. Dies ist ein besonderes Armutsrisiko für diese Altersgruppe. Oft zeigen sich die Jugendlichen den Jobcentern nicht zugewandt. Eben weil die Jobcenter sanktionieren. Bevor diese Sanktionen greifen, wäre eine Kontaktaufnahme durch die Jugendberufsagentur hilfreich. Dann kann gemeinsam überlegt werden, welche Förderung am besten geeignet ist. Natürlich unter Einbeziehung der Jugendlichen.
Im Übrigen finde ich ganz besonders ungerecht, wie mit jungen Menschen in Bedarfsgemeinschaften umgegangen wird. Sie dürfen von ihrer Ausbildungsvergütung nur 100 Euro behalten, der Rest wird einbehalten, weil die Eltern HartzIV beziehen. Das ist absolut demotivierend und bietet keinen Anreiz, aus dem HartzIV-Bezug rauszukommen.
Die Caritas schließt sich den aktuellen Forderungen des Bundesjugendkuratoriums nach einem Digitalpakt Kinder- und Jugendhilfe an, damit Teilhabe und Partizipation von jungen Menschen auch in Einrichtungen und mit Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe gefördert wird. Welche sind das?
Wir haben in der Pandemie festgestellt, dass vor allem benachteiligte junge Menschen abgehängt wurden und werden. Ihnen mangelt es nicht nur an digitaler Ausstattung, sondern auch an Unterstützung bei der Entwicklung digitaler Kompetenzen für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Deshalb ist es dringend notwendig, für die Jugendsozialarbeit mit ihren Angeboten in der Schulsozialarbeit, dem Jugendwohnen und der Jugendberufshilfe ein Bundesprogramm "Digitalisierung in der Jugendsozialarbeit" zu schaffen. Es muss unbedingt verhindert werden, dass ohnehin schon benachteiligte junge Menschen erneut ausgegrenzt werden, indem ihnen digitale Teilhabe verwehrt bleibt.