Millionen Menschen sind zur Flucht gezwungen
Über 51 Millionen Menschen mussten im vergangenen Jahr nach den jüngsten Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) ihre Heimat verlassen, als Flüchtlinge oder Binnenvertriebene.
Niemals zuvor waren so viele Menschen auf der Flucht. Anerkannte Flüchtlinge bilden jedoch nur einen Teil dieser Gruppe, denn dieser Begriff ist eng gefasst. Artikel 1 der im Jahr 1951 in Kraft getretenen Genfer Flüchtlingskonvention definiert Menschen zu Flüchtlingen, die sich "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen".
Diese Menschen migrieren unfreiwillig, um ihr akut bedrohtes Leben zu retten. Sie sind besonders schutzbedürftig und haben das Recht auf Sicherheit in einem anderen Land. Dazu gehören zum Beispiel Hunderttausende Christen, die aus dem Irak und innerhalb des Landes geflohen sind, um den gezielten Angriffen und massiven Drohungen radikalislamistischer Gruppen zu entgehen. Genauso wie die 1,1 Millionen Menschen aus Somalia, die sich vor den massiven Übergriffen der Bürgerkriegsparteien mit Massenvergewaltigungen, Zwangsrekrutierung von Kindern und öffentlichen Hinrichtungen sowie immer wiederkehrenden Hungersnöten ins Ausland gerettet haben. Allein der Blick auf die Herkunft der Flüchtlinge weist dabei auf eine wichtige Problematik hin. Laut UNHCR kamen im Jahr 2014 rund die Hälfte der weltweit 16,7 Millionen Flüchtlinge1 aus insgesamt nur fünf Staaten, die von Kriegen und bewaffneten Konflikten erschüttert werden: Syrien (drei Millionen), Afghanistan (2,7 Millionen), Somalia (1,1 Millionen), Sudan (0,7 Millionen) und Kongo (0,5 Millionen). Fast die Hälfte von ihnen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, ein großer Teil von ihnen lebt bereits seit Jahren in Lagern und hat keine Perspektive auf Rückkehr.
Entwicklungsländer tragen die Hauptlast
In der jüngeren Vergangenheit ist immer wieder der Eindruck vermittelt worden, dass Europa die Hauptlast der weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen trägt. Dies ist jedoch mitnichten der Fall. Die meisten von (Bürger-)Krieg, politischer Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen betroffenen Menschen bleiben in der Regel möglichst nah an ihrem Zuhause oder fliehen ins Nachbarland. Die Hauptlast von Flucht und Vertreibung tragen die armen und ärmsten Staaten der Erde. Vier von fünf Flüchtlingen weltweit finden laut UNHCR Zuflucht in einem Entwicklungsland. Wenn zudem die Wirtschaftskraft eines Landes in Bezug zur Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge gesetzt wird, dann befinden sich unter den Top Ten sieben afrikanische Länder (darunter Äthiopien, Tschad, Uganda) und drei asiatische Staaten (Pakistan, Afghanistan sowie Bangladesch). So sind zum Beispiel Pakistan und der Iran die Hauptaufnahmeländer für Flüchtlinge aus Afghanistan. Alleine in Pakistan leben 1,6 Millionen Afghanen, das damit weltweit die größte Zahl an Flüchtlingen aufnimmt. Auf dem zweiten Rang findet sich seit kurzer Zeit der Libanon, der über 1,1 Millionen Menschen (aus Syrien und dem Irak) bei sich beherbergt. Bei einer Einwohnerzahl von nur 4,5 Millionen Menschen ist dies eine bedeutende Leistung, mehr als ein Viertel der Bevölkerung besteht inzwischen aus Flüchtlingen (257 von 1000). Schweden als das Industrieland mit der höchsten Aufnahmequote bietet hingegen auf 1000 Einwohner gesehen zwölf Flüchtlingen Schutz. Bei den weltweit gestellten Asylanträgen liegt Deutschland weltweit auf dem ersten Platz, 2014 beantragten über 200.000 Menschen Asyl in der Bundesrepublik.
Ähnlich wie im Libanon sehen die Verhältnisse in Jordanien aus, das zusammen mit der Türkei ebenfalls eines der Hauptaufnahmeländer für syrische Konfliktopfer ist. Die dadurch verursachten Auswirkungen sind für die lokale Bevölkerung äußerst spürbar. Es kommt zu einer Verteuerung von Mieten und Nahrungsmitteln, der Billiglohnsektor ist durch das Überangebot an Arbeitskräften aus dem Flüchtlingsbereich - die aus ihrer Not heraus zu jedem Lohn illegal arbeiten - explodiert. Mitarbeitende der Caritas Jordanien berichten zudem von überfüllten Schulklassen, überlasteten Hospitälern und einem Mangel an Trinkwasser. Wirtschaftsexperten schätzen den volkswirtschaftlichen Schaden für Jordanien auf rund drei Milliarden US-Dollar - pro Jahr. Und dennoch: Gastfreundschaft und Solidarität prägen in großen Teilen die öffentliche Einstellung der jordanischen und libanesischen Gesellschaft gegenüber syrischen Flüchtlingen. Humanitäre Flüchtlingshilfe muss unter diesen Voraussetzungen auch die angestammte arme Bevölkerung miteinbeziehen, um den sozialen Frieden zu sichern.
Menschen fliehen vor dem Krieg
Nach dem Konfliktbarometer des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung gab es 2014 weltweit 424 Konflikte, von denen 46 aufgrund des Einsatzes organisierter Gewalt und der damit verbundenen gravierenden humanitären Folgen als "hochgewaltsam" eingeschätzt werden.2 Damit registrierten die Forscher nicht nur die höchste bisher gemessene Zahl an Konflikten sondern auch die Involvierung von erheblich mehr Staaten. Diese Konflikte sind es, die zuletzt zu einem solch starken Anstieg der Flüchtlingszahlen geführt haben. Zugleich gibt es aber zahlreiche weitere Gründe, die Menschen dazu veranlassen oder zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Die Grenzen zwischen Flucht und Migration gehen dabei fließend ineinander über. Staatszerfall und fehlende politische wie wirtschaftliche Stabilität führen zu erhöhter Abwanderung.
Wirtschaftliche Not zwingt zur Migration
Caritas InternationalKrieg ist aber bei Weitem nicht die einzige Fluchtursache. Am Beispiel Burkina Fasos lässt sich beobachten, wie das sogenannte "landgrabbing" die Menschen zur Abwanderung zwingt: Internationale Konzerne kaufen oder pachten riesige Anbaugebiete in Afrika, Asien und Lateinamerika und nutzen die Felder, um Nahrungs-, Futtermittel- oder Energiepflanzen anzubauen. Die Erträge sind überwiegend für den Export bestimmt. In Burkina Faso wurden Tausende Hektar besonders fruchtbaren Ackerlandes für den Baumwollanbau für 99 Jahre an internationale Unternehmen verpachtet. Diese rein exportorientierte Politik geht zulasten der Kleinbauern und vermindert zugleich den Anbau lokaler Grundnahrungsmittel. So entsteht eine paradoxe Situation: Länder wie Burkina Faso oder auch Mali vergeben landwirtschaftliche Nutzflächen in großem Stil, können aber die eigene Bevölkerung nicht selbstständig ernähren. Sie sind fortan abhängig von Nahrungsmittelimporten und Weltmarktpreisen - mit katastrophalen Folgen für die Ernährungssicherheit. Beim Wettbewerb um Ackerland haben Kleinbauern und Landlose, Nomaden und Hirten das Nachsehen - Menschen, die ohnehin von Hunger und Mangelernährung bedroht sind. In vielen Fällen werden sie mit Gewalt vertrieben, ohne Entschädigung umgesiedelt oder zu Verpachtung oder Verkauf gezwungen. Die Betroffenen verlieren ihren Zugang zu Land und Wasser und damit ihre Lebensgrundlage. Sie sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, in die Städte zu ziehen oder als Migranten im Ausland nach einem besseren Leben für sich und ihre Familien zu suchen.
Was kann humanitäre Hilfe leisten?
Es ist kaum zu vermuten, dass sich die globale Migrationsproblematik in naher Zukunft entschärfen lässt. Dafür ist die politische und ökologische Lage zahlreicher Krisenregionen weltweit zu schwierig und komplex. Besonders besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang die Zunahme von unkontrollierten Fluchtbewegungen durch Kriege und Konflikte. Die Hauptzielländer dieser Konfliktopfer liegen mehrheitlich im Süden und leiden teils unter einer massiven politischen und gesellschaftlichen Destabilisierung durch den massenhaften Zuzug. Nicht selten kommt es zu Verteilungskonflikten zwischen den Flüchtlingen und der einheimischen Bevölkerung um knappe Ressourcen, die in gewalttätige Auseinandersetzungen münden können. Die EU und Deutschland müssen diese Länder in Zukunft noch stärker bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise unterstützen.
Sollte ein von sich aus bereits fragiler Staat wie der Libanon oder ein Stabilitätsanker wie Jordanien unter dem Eindruck der Syrienkrise auseinanderbrechen, so wären die humanitären und politischen Folgen für die ganze Region des Nahen und Mittleren Ostens unabsehbar. Humanitäre Soforthilfe ist in diesen Ländern wie in vergleichbaren Situationen von besonderer Notwendigkeit, um aus Fluchtbewegungen keine weiteren Krisenherde entstehen zu lassen. Darüber hinaus kommt es darauf an, Kriegsflüchtlingen und -vertriebenen im Rahmen des Möglichen Perspektiven für eine Zukunft zu geben. Hierzu gehören Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten, um die mehrheitlich jugendliche Gruppe der Flüchtlinge davor zu bewahren, eine leichte Beute politischer Extremisten und Terroristen zu werden. In Ostafrika gibt es zahlreiche Beispiele, wie jahrzehntelang bestehende Flüchtlingslager, in denen Menschen nahezu ihr ganzes Leben verbracht haben, zur Eskalation innenpolitischer Konflikte beigetragen haben. Zudem kann ungeregelte Zuwanderung durch eine Verschiebung der Größenverhältnisse von Bevölkerungsanteilen latente ethnische oder religiöse Konflikte verstärken.
Fluchtursachen müssen bekämpft werden
Die Entwicklungszusammenarbeit hat vielfältige Auswirkungen auf Migration und die Bewältigung von Fluchtbewegungen. In letzter Konsequenz wird mehr Entwicklung, Bildung und Wohlstand zu mehr Mobilität führen, was sich durchaus zum Nutzen aller Beteiligter auswirken könnte. In diesem Kontext werden immer wieder Modelle einer zirkulären Migration diskutiert, die Migranten das Pendeln zwischen ihrem Heimat- und Aufnahmeland erleichtern sollen und auf diese Weise einen besseren Einsatz des Humankapitals ermöglichen könnten. Eine von Caritas international durchgeführte Befragung unter Migrationswilligen in Westafrika ergab, dass 90 Prozent der mehrheitlich jungen Männer nicht die Absicht haben, ihrer Heimat auf lange Sicht fernzubleiben. Sie wollen vielmehr Geld verdienen, sich fortbilden und dann zurückkehren. Eine gesteigerte Mobilität (zum Beispiel durch aufenthaltsrechtliche Bestimmungen) könnte zu positiven Auswirkungen auf Wirtschaft und Handel führen.
Die Auswirkungen von Flucht und Migration üben auf die Industrieländer des Nordens einen wachsenden Druck aus, dem durch Abschottung allein nicht dauerhaft begegnet werden kann. Es wird in Zukunft noch stärker darauf ankommen, Fluchtursachen durch Konfliktprävention und integrale Hilfe bereits im Ansatz zu bekämpfen sowie den Wanderungsdruck aus dem Süden durch infrastrukturelle Maßnahmen vor Ort (vor allem Anhebung des Lebensstandards) sowie Mechanismen geordneter Zuwanderung zu steuern. Und schließlich wird es - nicht zuletzt auch in Deutschland - eine zentrale Aufgabe von Politik und Zivilgesellschaft sein, in der Bevölkerung das Bewusstsein zu erhöhen, dass das Phänomen Migration eine Grundkonstante menschlichen Lebens darstellt und in einer globalisierten Welt nicht mehr von der Agenda verschwinden wird.
Anmerkungen
1. Zu diesen und anderen genannten Flüchtlingszahlen vgl.: UNHCR: Mid-Year Trends 2014. Genf, 2015. Der Bericht ist abrufbar unter: http://unhcr.org/54aa91d89.html. Aktuelle Daten und Fakten zur Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen finden sich unter www.unhcr.de
2. Heidelberg Institute for International Conflict Research: Conflict Barometer 2014. Heidelberg, 2015. Im Internet abrufbar unter: www.hiik.de/de/konfliktbarometer/pdf/ConflictBarometer_2014.pdf
Der Artikel erschien im neue caritas-Jahrbuch 2016.