Integration gelingen lassen
Meist sind es männliche Jugendliche, die ihre Heimatländer verlassen - wegen politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung, wegen Krieg und wirtschaftlicher Not, wegen Umweltzerstörung und Perspektivlosigkeit. Auch wenn eine kleine Minderheit durch kriminelles Verhalten auffällig wird, kommen doch die weitaus meisten mit dem Wunsch, sich hier zu integrieren und ein sicheres, eigenständiges Leben zu führen.
Der Andrang stellt alle Beteiligten in den Kommunen vor besondere Herausforderungen. Derzeit fehlt es in Bremen vor allem an geeigneten Unterkünften, intensiver Betreuung und dem zeitnahen Zugang zu Deutschkursen sowie schulischem und beruflichem Lernen. Über Wochen sind viele junge Flüchtlinge nach ihrer Ankunft daher in Massenunterkünften weitgehend sich selbst überlassen, haben nichts zu tun, können nichts lernen. Damit steigt das Risiko, den Einstieg in unsere Gesellschaft zu verpassen und unter negative, womöglich kriminelle Einflüsse zu geraten.
Ende 2014 hielten sich nach Angaben der Landesregierung 590 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Stadt Bremen auf, in Bremerhaven sind es derzeit 29. Für dieses Jahr rechnet der Senat mit weiteren 800 bis 1000 Neuzugängen im Land Bremen. Die fünf wichtigsten Herkunftsländer sind Guinea, Gambia, Marokko, Algerien und Somalia. Weitere kommen aus Südosteuropa, aus dem Mittleren Osten sowie aus anderen Ländern in Afrika und Asien. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden gegenwärtig - anders als Erwachsene und ihre Kinder - nicht nach dem "Königsteiner Schlüssel" bundesweit verteilt. Sie werden vielmehr dort aufgenommen und von der Jugendhilfe betreut, wo sie sich zuerst melden. Dies führt dazu, dass sich Jugendliche in einigen Städten Westdeutschlands, so auch in Bremen, konzentrieren. Nicht zuletzt auf Initiative des Bremer Senats soll diese Regelung vom Gesetzgeber geändert werden.
Der Deutsche Kinderschutzbund, Landesverband (LV) Bremen setzt sich für das Wohlergehen aller Kinder und Jugendlichen im Land Bremen ein. Dazu gehören auch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Sie bedürfen - wie alle anderen dieser Altersgruppe - des Schutzes und der Fürsorge nach dem Jugendhilfegesetz. "Wir sind uns bewusst, dass dies das Land vor große Herausforderungen stellt und die finanziellen, personellen und räumlichen Ressourcen immer weniger ausreichen werden, diesem Anspruch gerecht zu werden", räumt Carsten Schlepper, 1. Vorsitzender des Kinderschutzbundes, Landesverband (LV) Bremen, ein. Deshalb schlägt er vor, dass eine frühzeitige Umverteilung aus den Zentralen Aufnahmestellen (ZAST) in andere Kommunen erfolgt, soweit dort die notwendige Infrastruktur als Kompetenzzentrum vorhanden ist.
Schlepper appelliert an die mit dieser Problematik befassten senatorischen Dienststellen, Wohlfahrtsverbände, Kammern und Vereine, alle Kräfte anzuspannen, um diesen jungen Menschen eine Perspektive zu geben und ihre Integration zu ermöglichen. Er appelliert auch an die Bevölkerung, sich den Minderjährigen gegenüber offen zu zeigen, sich nicht gegen Unterkünfte in der Umgebung zu sperren und - wo das möglich ist - Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Unterbringung
Nach Angaben des Senats waren Ende Februar 2015 in der Stadtgemeinde Bremen 436 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit Leistungen der Jugendhilfe registriert. In der Zentralen Aufnahmestelle (ZAST) waren 143, in Einfachhotels oder Hostels68, in Pflegefamilien 18 und einige auch in eigenen Wohnungen bzw. Wohngemeinschaften mit ambulanter Betreuung untergebracht. In Bremerhaven waren zu diesem Zeitpunkt 28 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht.
Das Amt für Soziale Dienste nahm Jugendliche, die außerhalb der Erstaufnahmestelle in einer der ambulanten oder stationären Jugendhilfemaßnahmen oder in einer Clearingstelle untergebracht waren, innerhalb von 0 bis 6 Monaten "in Obhut". "Dies entspricht in vielen Fällen nicht den Anforderungen des Kinder-und Jugendhilferechts", kritisiert Arnold Knigge, Vorstandssprecher der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Bremen e.V. (LAG FW). Auch der Aufenthalt der männlichen Jugendlichen in der Erstaufnahmestelle bis zur Verlegung in eine der beiden Clearingstellen in der Stresemannstraße und in der Berckstraße sei entschieden zu lang.
"Die Probleme schleppender Inobhutnahme, langer Verweildauer in der Erstaufnahmestelle, später Verlegung in die Clearingstelle sowie fehlender Übergangsplätze und dauerhafter Wohnungsangebote für diese Jugendlichen müssen dringend gelöst werden", fordert Knigge. Künftig müssten die jungen Flüchtlinge vielmehr nach einem kurzen Aufenthalt in der ZAST für drei bis vier Monate in den Clearingstellen oder in sonstigen befristeten Unterkünften untergebracht werden. In dieser Zeit müsse ein Clearingauftrag dazu führen, dass die Jugendlichen nach dieser Phase in Wohngruppen, Wohngemeinschaften oder in Einzelwohnungen eine Bleibe fänden.
Betreuung
Die Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist Aufgabe der Freien Träger, im Wesentlichen der Träger der Freien Wohlfahrtspflege. Sie erfolgt durch Fachkräfte, Ehrenamtliche und andere Mitarbeiter der Träger der freien Jugendhilfe. Nach Angaben des Senats ist die Betreuungsrelation sehr unterschiedlich. Sie hängt von der bisherigen Aufenthaltsdauer, vom Entwicklungsstand der Jugendlichen und von den Wohnmöglichkeiten ab. An Verbesserungen vor allem bei der Ankunft und in den ersten Wochen inder Erstaufnahmestelle wird nach Auskunft des Senats gearbeitet.
LAG FW und Kinderschutzbund halten Verbesserungen bei der Betreuung für dringend notwendig. Der Personalschlüssel müsse deutlich besser sein als der für Erwachsene. Dies gelte für alle Formen und Stadien der Unterbringung. Über "Inobhutnahme" und Amtsvormundschaft müsse schnell entschieden werden. Hierfür müsse das Personal beim Amt für Soziale Dienste weiter aufgestockt werden, auch wenn die Probleme auf dem Fachkräftemarkt nicht zu übersehen seien, fordern Knigge und Schlepper.
Bildung
Schneller Spracherwerb, schulische Bildung und berufliche Ausbildung sind Schlüsselelemente einer erfolgreichen Integration. Die schulische Situation ist für junge Flüchtlinge in Bremen und Bremerhaven nicht nur sehr unterschiedlich, sondern nach Auffassung der LAG-FW und des Kinderschutzbundes auch unbefriedigend. In Bremerhaven gehen die meisten Jugendlichen zur Werkstattschule oder besuchen Deutschkurse des Pädagogischen Zentrums oder der VHS. Ein Jugendlicher besucht die Grundschule, andere warten auf die Aufnahme in die Schule oder des Pädagogischen Zentrums.
In der Stadt Bremen liegen - aus vermeintlich datenschutzrechtlichen Gründen in Bezug auf den Aufenthaltsstatus der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge - nur Schätzungen des Senats zum Schulbesuch vor. Danach sind im Schuljahr 2013/2014 lediglich fünf bis zehn Jugendliche in Vorklassen der Sekundarstufe I und der gymnasialen Oberstufe aufgenommen worden. Die größte Gruppe der 16-bis 18-Jährigen fällt aufgrund ihres Alters in die Zuständigkeit des berufsbildenden Bereichs.
Nach Angaben des Senats wurden im Schuljahr 2013/2014 175 Neuzugänge in den Vorkursen der berufsbildenden Schulen verzeichnet. Der Senat schätzt, dass zurzeit rund 350 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eine Schule in Bremen besuchen. Die Bildungsbehörde hat demnach ihr Angebot in den vergangenen zwei Jahren verfünffacht. Trotz dieser Ausweitung reicht das vorhandene Angebot nach Angaben des Senats nicht aus, um die wachsende Zahl von Jugendlichen schulisch zu versorgen. Der Kapazitätsausbau bei den Vorkursangeboten werde daher weiter vorangetrieben. Unbefriedigend ist gegenwärtig auch, dass die Wartezeit bis zum Beginn des Vorkurses oft mehrere Wochen dauert und die Vorkurse oft nicht wohnortnah angeboten werden.
Um die Zeit vor dem Beginn des regulären Schulbesuchs in einem der Vorkurse zu nutzen und den Jugendlichen schnell eine Tagesstruktur zu geben, bietet die Bildungssenatorin seit dem Frühjahr 2014 über Hauslehrkräfte an einer Oberschule in der Nähe der Erstaufnahmestelle ein erstes Vorkursangebot an. Es ist geplant, diese "Vor-Vorkurse" weiter zu entwickeln und für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge der Erstaufnahmestelle an einem zentralen Schulstandort ein Erstbeschulungsangebot zu realisieren.
Um die berufliche Bildung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu gewährleisten, müssen auch Initiativen der beruflichen Ausbildung ergriffen werden. Es sei zu begrüßen, dass die Handels-und die Handwerkskammer mit der Finanzsenatorin 50 Ausbildungsplätze bereitstellen wollten, sagt Arnold Knigge. Alle öffentlichen und privaten Arbeitgeber blieben jedoch aufgefordert, ihr Angebot an Praktikums-und Ausbildungsplätzen auch für diese Jugendlichen zu öffnen und auszuweiten. Wichtig sei außerdem, dass die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zumindest bis zum Abschluss einer Ausbildung ausgeweitet werde.
Problemgruppen
Zu den Problemgruppen zählen laut LAG FW sowohl volljährige Flüchtlinge, die sich als minderjährig ausgäben, als auch straffällige junge Menschen. Volljährige junge Flüchtlinge gehörten nicht in das Betreuungssystem der Jugendhilfe für Minderjährige. Für sie gälten die Regelungen der Jugendhilfe für junge Erwachsene, die zumindest Hilfen bis zum 21. Lebensjahr vorsähen.
Eine kleinere Gruppe falle durch häufige Straftaten auf, berichten Knigge und Schlepper. Für solche Intensivtäter werde nach den Plänen des Bremer Senats derzeit eine geschlossene Jugendhilfeeinrichtung nahe der Justizvollzugsanstalt vorbereitet. LAG FW und Kinderschutzbund sind sich einig über die Erfolgsaussichten einer solchen Unterbringung: "Wir lehnen eine solcheEinrichtung in Bremen ab, da sie keine Probleme löst, sondern neue schafft. Dies haben die gewaltsamen Übergriffe und Ausbruchsversuche in entsprechenden Einrichtungen in Hamburg und Brandenburg (Haasenburg) gezeigt."
Andererseits könne die Unterbringung und Betreuung auffälliger Jugendlicher nicht allein Aufgabe der Jugendhilfe sein. Bei Straffälligkeit, Drogensucht und psychiatrischen Auffälligkeiten müssten andere Stellen mit ihren Kompetenzen und Erfahrungen einbezogen werden. Die LAG FW spricht sich für ein gemeinsames Vorgehen von Jugendhilfe, Drogenhilfe, Psychiatrie, Justiz und Polizei mit allen genannten Akteuren aus. Aufgabe der Jugendhilfe müsse die intensivpädagogische Betreuung dieser Jugendlichen bleiben. Soweit sie straffällig würden, müssten Polizei und Justiz die erforderlichen Maßnahmen zügig ergreifen. Unter Federführung der Jugendhilfe sollten alle für diese Fälle relevanten Akteure gemeinsame Handlungskonzepte für auffällige Jugendliche in übergreifenden Fallkonferenzen entwickeln. Der Bremer Senat bleibe aufgefordert, die Initiative für ein solches Vorgehen zu ergreifen.
Kontakt (V.i.S.d.P.):
Sylvia Gerking (LAG Geschäftsleitung)
Bahnhofstr.32
28195 Bremen
Telefon: 0421-14 62 94 41