„Wohnungslose Menschen können sich den Luxus von sozialer Distanzierung nicht leisten“
Es heißt jetzt überall, man solle zu Hause bleiben. Was heißt das für jemanden, der kein Zuhause hat?
Wenn ich auf der Straße wohne oder eine Notunterkunft meine einzige Bleibe ist, kann ich mich nicht zu Hause einquartieren oder auch nur soziale Distanzierung praktizieren. Als wohnungslose Person bin ich darauf angewiesen, dass es Orte gibt, wo ich mich aufhalten, meine Sachen waschen kann, eine Mahlzeit erhalte oder eine Übernachtungsmöglichkeit habe. Einfache Dinge, die zu einem einigermaßen würdigen Leben gehören - auf Toilette gehen zum Beispiel - können nicht mehr stattfinden, wenn Cafés oder Fast-Food-Restaurants geschlossen sind. Wenn auch noch die caritativen Einrichtungen ausfallen, wie das an vielen Orten bereits der Fall ist oder abzeichnet, sind wohnungslose Menschen völlig auf sich gestellt.
Eins sollte nicht vergessen werden: Oft sind wohnungslose Menschen nicht nur ohne Wohnung, sie haben vielleicht auch andere Probleme - psychische Krankheiten oder Sucht zum Beispiel.
Und auch für das Virus selbst sind sie besonders anfällig: Wer aufgrund seiner Lebenssituation einfache Hygieneregeln nicht beachten kann, kann sich unmöglich schützen.
Kann die Caritas noch ihre Angebote für wohnungslose Menschen aufrechterhalten?
Es ist je nach Ort unterschiedlich. In Berlin, wo Wohnungslosigkeit ein großes Problem ist, sind die zwei Winternotübernachtungen des Sozialdiensts katholischer Frauen (SKF), einem Fachverband der Caritas, derzeit noch offen und der Senat sucht Räumlichkeiten, um Schutz-Unterkünfte für wohnungslose Menschen zu installieren. In Hamburg ist eine Einrichtung, ein Kältehilfestandort, selbst unter Quarantäne.
Viele Tagesaufenthaltsangebote haben geschlossen und fungieren nur noch als Postadresse. Viele spezifische Projekte und Hilfen, zum Beispiel eine medizinische Beratung, müssen ihre Arbeit einstellen. Das heißt konkret: Wunden können nicht versorgt werden, Medikamente können auch nicht verteilt werden oder notwendige Hilfen können nicht zur Verfügung gestellt werden.
Ein großes Problem ist der unzureichende Schutz für Mitarbeitende. Aus Hamburg höre ich zum Beispiel, dass es keine Schutzkleidung und Masken gibt. Das dürfte in anderen Städten nicht viel anders sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Infizierte unter den Klientinnen und Klienten finden, ist aber hoch - gerade deshalb, weil diese Menschen den Luxus nicht haben, "soziale Distanzierung" zu praktizieren.
In dieser Situation müssen die Verantwortlichen sehr genau abwägen zwischen dem Risiko, dem sie ihre Mitarbeitenden aussetzen können, und der Verpflichtung, in der wir uns sehen, den Hilfebedürftigen zur Seite zu stehen. Überall wird versucht, so viele Angebote wie möglich aufrecht zu erhalten, wenn auch in reduzierter oder angepasster Form - zum Beispiel, indem nicht mehr als eine Handvoll Menschen in die Hilfsangebote reingelassen werden, oder indem dort fertige Pakete zusammengestellt werden. In Hamburg werden Lunchpakete verteilt. In Aufenthaltsangebote für tagsüber werden die Plätze mancherorts reduziert, um Sicherheitsabstände zu bewahren. Das ist zum Beispiel in München in der Wärmestube in der Nähe des Hauptbahnhofs der Fall. Überall versuchen die Einrichtungen, sich so gut sie können und mit Erfindungsgeist zu helfen, um weiterhin für die Menschen da zu sein. Denn wir wissen - wenn wir es nicht machen, sieht es für sie sehr schlecht aus. Nichtsdestotrotz können sich die Caritas-Einrichtungen nicht über Verordnungen und Erlasse hinwegsetzen. Wir versuchen aber, im Gespräch mit der örtlichen Politik zu bleiben und auf den Bedarf hinzuweisen.
Wie kann jeder Einzelne helfen?
Obdachlosen Essen zur Verfügung zu stellen, ist in der Zeit eine gute Einzelfallhilfe. Oder einfach nur Wasserflaschen! Trinkwasser ist nicht einfach zu bekommen, wenn alles geschlossen ist. Da muss man aber auch die Bedingungen beachten und respektvoll auf die Menschen zugehen.
Am meisten hilft aber auch tatsächlich Geld - entweder direkte Spenden an die Menschen, die Ihnen begegnen - in Zeiten von Isolation sind es aber vielleicht nicht Viele Sinnvoll ist es daher, an Organisationen zu spenden. Einige Caritasverbände haben extra Spendenaufrufe dafür gestartet, so zum Beispiel im Emsland. Der dortige Verband musste seine Wärmestube schließe, möchte aber gerne jedem seiner Klientinnen und Klienten 30 Euro spenden, ist dafür selbst auf Spenden angewiesen.
Grundsätzlich gilt: Die örtlichen Caritasverbände haben den Überblick, was sie leisten können und wie man sich am Sinnvollsten einbringen kann. Ehrenamtliche werden in der Wohnungslosenhilfe im Moment eher nicht gebraucht - das wäre einfach nicht sicher genug.
Gibt es auch Lehren, die die Wohnungslosenhilfe aus dieser Krise ziehen kann?
Das auf Ehrenamt und humanitärer Hilfe basierende System der Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Leistungen kommt schnell an seine Grenzen und ist nicht krisenfest. Gleichzeitig haben wir es mit Menschen zu tun, die von dieser Krise - von allen Krisen - mit am meisten betroffen sind. Die Versorgung von Menschen in prekären Lebenslagen kann eigentlich nur durch anonymisierte Mechanismen der Solidarität adäquat erfolgen. Unser System verlässt sich zu sehr auf das Engagement von Einigen und auf Charity.
Das heißt für uns: Wir müssen politisch dafür engagieren, unkomplizierte Zugänge für Menschen ohne Versicherung in die Regelsysteme zu organisieren - zum Beispiel über anonyme Krankenscheine. Das Coronavirus zeigt exemplarisch, was wir eigentlich schon wissen: Es ist ein beschwerlicher Weg, Gehör für die Interessen der Menschen am Rande der Gesellschaft zu bekommen.
Stand: 19.03.2020