Caritas zieht Konsequenzen aus Missbrauchsfällen
Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart (DiCV) betreibt seit zwei Jahren eine systematische Qualitätsentwicklung zur Prävention von sexuellem Missbrauch. Hintergrund war die Vorgabe von Bischof Gebhard Fürst, für den Verband eigene Leitlinien zur Prävention zu entwickeln. Diese wurden Mitte Oktober 2012 im Katholischen Amtsblatt veröffentlicht und damit in Kraft gesetzt. Folgende Ziele wurden definiert:
- Es gibt in der Einrichtung aufgrund der Kultur der Achtsamkeit und Verantwortung eine hohe Sensibilität für Gefährdungsräume und Vorfälle.
- In der Einrichtung kann offen über Schwierigkeiten im Umgang mit den Hilfesuchenden und Anvertrauten gesprochen werden.
- Die Einrichtung hat ein transparentes Qualitätsmanagement, in dem externe Partner mitwirken.
- Fälle von Übergriffen/Fehlverhalten werden unverzüglich behandelt.
- Fälschlich bezichtigte Mitarbeitendewerden duch ein klar beschriebenes Verfahren rehabilitiert und können weiter in der Einrichtung arbeiten.
Nur eine Frage von Vertrauen?
Das Thema "sexueller Missbrauch durch Mitarbeitende" ist untrennbar verbunden mit der Frage von Vertrauen: Inwieweit kann die Caritas ihren Mitarbeitenden vertrauen? Inwieweit muss sie diese zum Schutz der ihr Anvertrauten kontrollieren? Inwieweit ist im sozialen Bereich eine Qualitätsentwicklung in Sachen Vertrauen möglich? Die Vorgaben des Bundeskinderschutzgesetzes vom 1. Januar 2012 sind eindeutig, was die Voraussetzungen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen angeht. Der DiCV Rottenburg-Stuttgart hat die Möglichkeit, von allen Mitarbeitenden ein erweitertes Führungszeugnis anzufordern und gerichtlich prüfen zu lassen. Daraufhin wurden alle Arbeitsplätze einer sorgfältigen Analyse unterzogen, ob aufgrund der Aufgabenbeschreibung Kontakt zu Kindern und Jugendlichen gegeben ist.
Mit der Frage des Vertrauens verknüpfen sich für einen christlichen Verband auch wesentliche Inhalte von Glaubensüberzeugung. Das bedeutet, dass auf institutioneller Ebene eine theologische und spirituelle Antwort gefunden werden muss. Eine weitere Aufgabe ist, Mitarbeiter(innen) auf ihre Kritikfähigkeit hin zu qualifizieren und Strukturen zu schaffen, die eine "Fehlerkultur" unterstützen. Das bedeutet, dass hinreichend Reflexionsräume und personale Angebote zur Verfügung stehen müssen, um Kritik oder Verdachtsmomente äußern zu können.
Wie geht die Caritas mit Fehlern von Mitarbeitern um?
Der DiCV Rottenburg-Stuttgart betrachtet den überlegten Umgang mit konkreten Verdachtsfällen, die Anerkennung von Opfern sexuellen Missbrauchs und die Umsetzung eines institutionellen Schutzkonzeptes als wesentliche Elemente der Prävention. Er trennt nicht zwischen Intervention und Prävention, sondern versteht die Intervention im konkreten Verdachtsfall als einen Teil der Prävention. Dafür stehen zum einen ein unabhängiger, vom Bischof ernannter ehrenamtlich tätiger Missbrauchsbeauftragter, zum anderen eine eigens dafür eingerichtete Stabsstelle zur Verfügung.
Ein erster Schritt, um die Meldung eines Verdachts von sexuellen Übergriffen transparent und niedrigschwellig zu ermöglichen, erfolgte im Herbst 2012 - mit der Einrichtung einer Hotline und einer Website (www.caritas-gegen-missbrauch.de). Ein zweiter Schritt waren Maßnahmen zur Gewinnung von geeignetem Personal: In diesem Zusammenhang wurde die im Bereich der Jugendhilfe eingeführte Selbstverpflichtungserklärung von den Ehrenamtskoordinatoren überarbeitet. Der entstandene Ehrenkontrakt als gemeinsamer Verhaltenskodex hat nun für alle Mitarbeitenden der Caritas Gültigkeit: Alle Hauptamtlichen, alle Ehrenamtlichen, alle Honorarmitarbeiter(innen) und Praktikant(inn)en sollen diesen kennen und unterstützen. Sie wissen damit auch, an wen sie sich wenden können und sollen, wenn ihnen respektloses Verhalten von anderen Mitarbeitenden auffällt.
Der Verband will so sicherstellen, dass in den Einrichtungen über sexuelle Grenzverletzungen gesprochen wird und dass sich Mitarbeitende wie Hilfesuchende trauen, sich zu wehren und ein Verhalten infrage zu stellen, das ihnen nicht angemessen erscheint. Gleichzeitig verpflichtet sich der Verband, den Mitarbeitenden Reflexionsorte anzubieten und Fortbildungsmöglichkeiten zu entwickeln. Alle Mitarbeitenden (egal ob ehren- oder hauptamtlich), die durch ihren Arbeitsauftrag mit Kindern und Jugendlichen Kontakt haben, müssen in regelmäßigen Abständen (derzeit alle fünf Jahre) ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen, ebenso alle Führungskräfte. Dazu musste der Verband jeden Arbeitsplatz einer strukturellen Risikoanalyse unterziehen. Jede(r) neue hauptamtliche Mitarbeitende muss das erweiterte Führungszeugnis vor Eintritt in den Verband zur Einsicht vorlegen. Jede(r) Mitarbeitende, egal ob haupt-, ehren- oder nebenamtlich, erhält die Hotlinenummer und Webadresse, die Leitlinien und den Ehrenkontrakt. Der Vorstand sichert den Mitarbeitenden zu, dass sie im Fall von fälschlicher Beschuldigung sowohl rechtliche als auch psychologische Unterstützung erhalten. Hierfür wurde mit der Gesamtmitarbeitervertretung ein Rehabilitationskonzept vereinbart.
Deutlich wird, dass sowohl Mitarbeitende als auch Führungskräfte Unterstützungsbedarf haben. Leitungskräfte fühlen sich entlastet, wenn der unabhängige Missbrauchsbeauftragte und die Stabsstelle Prävention/Kinderschutz sowohl die Anhörung der vermeintlichen Opfer als auch die Anhörung des/der Beschuldigten und von Zeug(inn)en übernehmen. Nach einer Untersuchung geht eine Meldung des unabhängigen Missbrauchsbeauftragten an die Kommission sexueller Missbrauch der Diözese.
Institutionelle Schutzkonzepte wurden entwickelt
Um die gewünschte Form des Hinschauens und Umgangs bei Verdachtsfällen transparent zu machen, wurden alle Leitungskräfte und Ehrenamtskoordinator(inn)en geschult. In den ersten beiden Jahren lag ein Schwerpunkt der Arbeit darin, die Prävention weiter voranzutreiben. In einem zweijährigen Prozess mit der Universität Ulm, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie, wurde das institutionelle Schutzkonzept entwickelt.2
Als ein erstes regelmäßiges Instrument wurde das "Fachforum Prävention von sexueller Gewalt" ins Leben gerufen. Hier soll ein Forum etabliert werden, in dem die Prävention sowohl im Diskurs zwischen dem DiCV und seinen Mitgliedern als auch zwischen den verschiedenen Hilfefeldern der Jugend-, der Alten- und der Eingliederungshilfe systematisch weiterentwickelt wird.
Bislang lag der Schwerpunkt der Anstrengungen im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Arbeit mit erwachsenen Schutzbefohlenen verlangt in den nächsten Jahren ebenfalls Aufmerksamkeit, zumal die Dunkelziffer der Übergriffe durch Mitarbeitende in der Eingliederungshilfe3 hoch ist.
Der Verband braucht Mitarbeitende, die konfliktfähig, beziehungsfähig und belastbar sind. Er erwartet von allen Mitarbeitenden, dass sie mit Respekt gegenüber den Anvertrauten handeln und sich verantwortlich um die Hilfesuchenden kümmern. Das bedeutet, dass er sich Gedanken darüber machen muss, wie einerseits eine hohe Mitarbeiterqualität bezüglich sozialer Kompetenz und andererseits eine entsprechende institutionelle Kompetenz im Umgang mit Fehlverhalten von Mitarbeitenden erreicht werden können. Es geht darum, aus dem Schweigen herauszutreten und sprachfähig zu werden - um der Betroffenen willen.4
Anmerkungen
1. Vgl. dazu Tripp, Wolfgang: Zum institutionellen Schutzkonzept des Caritasverbandes. In: Crone, Gerburg; Liebhardt, Hubert: Institutioneller Schutz vor sexuellem Missbrauch: Achtsam und verantwortlich handeln in Einrichtungen der Caritas. Beltz Juventa, voraussichtlicher Erscheinungstermin: Januar 2015.
2. Dieser Prozess ist ausführlich dokumentiert in: Crone, Gerburg; Liebhardt, Hubert: a.a.O.
3. Vgl. hierzu auch die Studie im Landtag von Baden-Württemberg vom 26.11.2013: www.thomasporeski.de/landtag/landtagsanhoerung-gewalt-gegen-menschen-mit-behinderung
4. Vgl. dazu Crone, Gerburg: Den Betroffenen eine Stimme geben. In: Crone, Gerburg; Liebhardt, Hubert: a.a.O.