"Pflegekräfte müssen sich organisieren und zusammenschließen"
Josef Neumann (SPD), Sprecher im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales und Beauftragter für InklusionJens van Zoest
Caritas in NRW: Aufgrund der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts nimmt der Anteil älterer Menschen in den Industrieländern stetig zu. Eine Folge davon ist, dass immer mehr professionelle Betreuung notwendig wird. Was kann getan werden, um die Versorgungssituation sicherzustellen?
Josef Neumann: Derzeit ist die Nachfrage nach Pflegeleistungen höher als das Angebot an Pflegefachkräften. Um die Versorgungssituation sicher zu stellen, müssen deswegen mehr Menschen für den Pflegeberuf gewonnen werden. Hier geht es einerseits darum, neue Pflegeschüler für die Ausbildung zu begeistern und andererseits, examinierte und erfahrene Pflegefachkräfte im Beruf zu halten. Die Attraktivität des Pflegeberufs lässt sich über eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine bessere Vergütung steigern. Das gilt auch für die medizinische Versorgung der Menschen in NRW. Die medizinische Versorgung auf dem Land muss ebenso wie in den Städten für alle Menschen gleichermaßen auf einem hohen Niveau sichergestellt werden. Dabei muss Gesundheit bezahlbar bleiben und die medizinische Versorgung für jeden erreichbar sein. Dazu gehört auch, dass die finanziellen Rahmenbedingungen von Krankenhäusern in NRW weiter verbessert und die Investitionen in die Substanz der Krankenhäuser deutlich erhöht werden. Eine neue Krankenhausfinanzierung analog zu "Gute Schule 2020" ist hier für die SPD ein gangbarer Weg. Bei dieser Finanzierung übernimmt das Land die Tilgung und die Zinsen und stellt die Mittel den Kommunen zur Verfügung. Dies sollte auch bei der Finanzierung von Krankenhäusern Anwendung finden. Um die Lasten des demographischen Wandels zu finanzieren, muss außerdem die Pflegeversicherung schrittweise von einer Teilkaskoleistung zu einer Vollleistungsversicherung umgewandelt werden.
Caritas in NRW: Schon jetzt fehlen bis zu 50.000 Pflegekräfte bundesweit. Schaut man sich die Bevölkerungsentwicklung an, ist klar, dass der Bedarf an Pflege- und Betreuungskräften noch ungefähr dreißig Jahre lang weiter steigen wird. Wer soll das leisten?
Josef Neumann: Wir erleben derzeit in NRW und in Deutschland eine große Debatte um die Zukunft der Pflege. Bedingt durch den demografischen Wandel, steigt auch in NRW die Zahl der pflegebedürftigen Menschen. Derzeit sind rund 640.000 Menschen in Nordrhein-Westfalen pflegebedürftig. Der Bedarf an professioneller, hochwertiger und qualitativ guter Pflege wird daher absehbar ebenso steigen wie der Bedarf an gut qualifizierten und hoch motivierten Beschäftigten in der Pflege. Mit dem "Sofortprogramm" Pflege will der Bund die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ab dem Jahr 2019 spürbare Verbesserungen im Alltag der Pflegekräfte durch eine bessere Personalausstattung und bessere Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege erreicht werden (z. B. 13.000 Pflegekräfte mehr in der stationären Pflege). Das allein reicht aber nicht aus. Wir müssen alle Möglichkeiten ins Auge fassen, die notwendig sind für eine Modernisierung und Aufwertung der Pflege. Daher müssen zum Beispiel auch die Potenziale der Digitalisierung im Pflegebereich und im Gesundheitswesen konsequent genutzt werden.
Caritas in NRW: Halten Sie es nicht für illusorisch in der heutigen Arbeitswelt (lange Wege, geforderte Flexibilität, unsichere Erwerbsbiografien), dass Arbeitsnehmer nach Feierabend auch noch Zeit, Kraft und Lust haben, in der Nachbarschaft (im Quartier) ehrenamtlich Pflege- und Betreuungsdienste zu leisten?
Josef Neumann: Das Ehrenamt ist ein wichtiger sozialer Pfeiler in unserer Gesellschaft und wir als SPD-Landtagsfraktion sind den vielen Menschen, die tagtäglich diese wichtige Arbeit leisten, sehr dankbar. Allerdings ist klar, dass das Ehrenamt kein Ersatz für die Daseinsvorsorgeleistung des Staates sein darf. Jeder Mensch in Deutschland und NRW muss Pflegeleistungen bekommen, sofern er sie benötigt und das unabhängig vom sozialen Auffangnetz des Pflegebedürftigen. Das Ehrenamt darf nicht institutionalisiert und zur Gewohnheit werden, der Staat hat hingegen Sorge dafür zu tragen, dass pflegebedürftigen Menschen entsprechende Pflegeleistungen zu Teil werden.
Caritas in NRW: Die allermeisten Menschen wollen möglichst lange in der eigenen Häuslichkeit alt werden. Andererseits wären große stationäre Pflegeeinrichtungen möglicherweise effizienter und günstiger im Hinblick auf Kosten und Personaleinsatz. Was kann dieses Land leisten und den alten Menschen anbieten?
Josef Neumann: Das eigene Quartier, die vertraute Umgebung sind wichtig für eine gute Pflege, denn die meisten Pflegebedürftigen wollen in der eigenen Häuslichkeit wohnen bleiben. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der rasant steigenden Zahl von pflegebedürftigen Menschen müssen deswegen alle Anstrengungen unternommen werden, um gute und menschenwürdige Pflege zu sichern und den Menschen ein selbstbestimmtes Leben im Alter und im gewohnten Wohnumfeld zu ermöglichen. Deswegen benötigen wir auch innovative Wohnkonzepte und Wohngemeinschaften für Pflegebedürftige. Die Landesregierung ist gefordert, die Akteure im Gesundheits- und Pflegebereich proaktiv bei der Entwicklung solcher Wohnkonzepte zu unterstützen.
Der Pflegeberuf ist vielseitig und anspruchsvoll
Caritas in NRW: Was macht den Pflegeberuf attraktiv?
Josef Neumann: Der Pflegeberuf ist ein sehr vielseitiger und anspruchsvoller Beruf. Leider erfährt er in Deutschland nicht die Anerkennung, die ihm gebührt. Vielseitig ist die Pflege, weil es keineswegs nur um die Assistenz bei der Körpflege geht, vielmehr geht es um die Kombination aus vielen Tätigkeiten. Es ist ein sehr dynamischer und sinnstiftender Beruf. Die Pflege bietet zudem viele verschiedene Fachbereiche, in denen man sich weiterentwickeln kann. Der Pflegeberuf ist anspruchsvoll, weil er mit einer hohen Verantwortung für Leib und Leben des Patienten einhergeht. Menschlichkeit und die dem Pflegepersonal entgegengebrachte Dankbarkeit der Patienten sind zwei weitere wichtige Punkte, die den Pflegeberuf ausmachen.
Caritas in NRW: Wie bewerten Sie die Maßnahmen der Bundesregierung, um das Image der Pflege und die Situation beim Pflegepersonal zu verbessern?
Josef Neumann: Die Landesregierung hat bisher keine konkreten Maßnahmen ergriffen, um die Situation des Pflegepersonals signifikant zu verbessern. Die Landesregierung nutzt ihre Möglichkeiten, auf den Bund einzuwirken - zum Beispiel über den Bundesrat - viel zu wenig. Die Passivität und das Zusehen der CDU/FDP-Landesregierung hilft den Menschen in NRW nicht weiter und zerstört das Vertrauen auf eine gute pflegerische und gesundheitliche Versorgung. CDU und FDP haben eine Koalition der sozialen Kälte gebildet. Die schlechte Performance beim Thema "Pflegekammer" und bei der Herabsetzung des Lehrer-Schüler-Verhältnis von 1:25 an den Pflegeschulen sind hierfür hervorragende Belege. Mit diesem Schlüssel bleibt NRW deutlich hinter den Vorgaben des Bundesgesetzes zurück. Die Verschlechterung der Ausbildungsbedingungen läuft den Bemühungen um eine Steigerung der Attraktivität der Pflegeausbildung im Besonderen und des Pflegeberufs im Allgemeinen entgegen.
Caritas in NRW: Was kann noch weiter getan werden? Wer blockiert?
Josef Neumann: Abgesehen von den Aufgaben des Staates, die Rahmenbedingungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Vergütung in der Pflege zu schaffen, sind auch die Akteure im Gesundheitswesen aufgefordert, in ihrem Einflussbereich für entsprechende Strukturen zu sorgen, um die Pflege zu stärken. Wie bereits oben dargestellt stehen CDU und FDP sich hierbei selber im Weg und blockieren sich gegenseitig. Deswegen müssen sich Pflegekräfte selbst viel stärker organisieren und zusammenschließen. Die Pflege sollte sich nicht auf das Helferdenken und menschliche Aspekte reduzieren (lassen), sondern selbstbewusst für ihre Anliegen eintreten und sich gewerkschaftlich in großer Zahl aufstellen. Je mehr Pflegekräfte sich konstruktiv in der Gewerkschaft oder im Berufsverband einbringen, desto zielführender können ihre Interessen verfolgt werden.