Wie geht die Marienhaus Stiftung mit ethischen Konflikten um?
Immer häufiger werden Altenhilfeeinrichtungen Wünsche zugemutet, bei denen die Frage aufkommt, ob diese mit den Zielen eines christlichen Trägers vereinbar sind. Ein konkreter Konfliktfall zeigt, mit welchen ethischen Instrumenten Unterstützung und Orientierung in den Altenhilfeeinrichtungen in der Marienhaus Stiftung gegeben wird.
Frau M. ist 86 Jahre alt und seit zwei Jahren im Altenheim. Sie hatte vor sieben Jahren infolge einer Hirnschädigung mit Lähmungen und anderen Ausfallerscheinungen zu kämpfen. Fünf Jahre lang wurde sie von ihrer Familie versorgt, seit zwei Jahren ist sie in der Pflegeeinrichtung. Wegen einer Schluckstörung wird ihr die Nahrung über eine Magensonde zugeführt.
Der Hausarzt ordnet durch Eintrag in die Bewohnerakte an, dass Frau M. zukünftig nur noch mit einem Liter Flüssigkeit versorgt werden darf. Ein Gespräch mit den Mitarbeiter(inne)n über die Gründe erfolgt nicht.
Ethische Fallbesprechung kann Gewissensnöte klären
Die Mitarbeiter(innen) halten sich an die Anordnung. Da die Vorgesetzten zu diesem Zeitpunkt Urlaub haben, wird erst verzögert bei der gesetzlichen Betreuerin, der Tochter, nachgefragt, warum diese Anordnung ergangen sei. Besuche der Tochter sind selten, da sie im Ausland wohnt. Auf die telefonische Nachfrage der Mitarbeiter(innen) teilt sie mit, dass es nicht dem mutmaßlichen Willen der Mutter entspreche, weiterhin künstlich ernährt zu werden.
Die Mitarbeiter(innen) berichten, dass sie mit „sehr schlechtem Gewissen“ der Anordnung folgen und nicht verstehen, warum nach vielen Jahren intensiver Pflege plötzlich die Ernährung eingestellt wird. Unmittelbar nach der Rückkehr der Heimleiterin sprechen die Mitarbeiter(innen) mit ihr über den Fall und ihre Gewissensnöte. Der Zustand der Bewohnerin hatte sich mittlerweile erheblich verschlechtert. Sie hat deutlich an Gewicht verloren. Der erneute Anruf beim Hausarzt führt zu der Aussage, „wo denn überhaupt das Problem liege, alles sei klar geregelt und jetzt wäre sie ohnehin sterbend“.
Um ihre Mitarbeiter(innen) zu unterstützen, regt die Heimleiterin eine ethische Fallbesprechung an. Vor Ort sind mittlerweile alle emotional so betroffen, dass eine objektive Gesprächsmoderatorin benötigt wird. Die Altenhilfeeinrichtungen in der Marienhaus Stiftung haben für diese Aufgabe eine Gruppe von sogenannten „Ethik-Koordinatoren“ ausgebildet, die von den Heimen angefordert werden können. Zum Zeitpunkt der Ethischen Fallbesprechung hat sich der Zustand der Bewohnerin derart verschlechtert, dass eine Wiederaufnahme der Ernährung nicht mehr möglich ist.
Bei der Aufarbeitung des Falles werden folgende Probleme benannt:
- Die Gründe für die Einstellung der Ernährung sind mit dem Pflegeteam nicht ausreichend besprochen worden: „Wir sind doch keine Pflegeroboter, sondern Menschen, die ihrem Gewissen folgen möchten. Wenn alle Betreuer von Angehörigen in unserem Hause eine solche Anordnung treffen würden, müssten wir über die Hälfte der Bewohner beim Sterbehungern begleiten!“, so die Meinung der Mitarbeiter(innen).
- Die Pflegenden berichten, dass die Bewohnerin einige Tage nach der Absetzung der Ernährung ansprechbar und aus ihrer Sicht aufklärungsfähig war. Niemand hat die Bewohnerin in dieser Phase gefragt, ob sie mit der getroffenen Entscheidung zur Absetzung der Ernährung einverstanden war.
- Die palliativ-medizinische Versorgung ist unzureichend. Die dauerhafte Anordnung zur Gabe von einem Liter Flüssigkeit ist in der Sterbephase unangemessen.
Die ethische Fallbesprechung hilft den Mitarbeiter(inne)n, ihre Gewissensnöte mitzuteilen, die Situation objektiv zu analysieren, Versäumnisse festzuhalten und Maßnahmen zu planen, die der Sterbenden helfen. Da solche Situationen in Zukunft wieder vorkommen können, wird der Ethik-Koordinator gebeten zu klären, welche rechtlichen Möglichkeiten und moralischen Pflichten einer Pflegeeinrichtung in solchen Fällen zur Verfügung stehen.
Ethik-Koordinatoren unterstützen die Pflegenden
Als Ethik-Koordinator werden Personen, die im Altenhilfebereich eine leitende Stellung haben, vom Träger in Absprache mit den Einrichtungen ausgesucht. Hauptaufgabe ist es, die Einrichtungen bei schwierigen ethischen Fragestellungen zu unterstützen. Hierfür erhalten die Ethik-Koordinatoren eine Ausbildung. Drei- bis viermal im Jahr treffen sie sich und berichten von Anfragen und Fällen, die sie zu bearbeiten haben. Schwierige Beratungssituationen können mit Hilfe der Kollegen und eines erfahrenen Ethikers aufgearbeitet werden.
Aus diesen Fallbeispielen werden Themen festgehalten, die auch für andere Einrichtungen von Bedeutung und bei denen eine weitere Bearbeitung oder Recherche nötig sind.
Als ein Ethik-Koordinator den Fall von Frau M. vorstellt, berichten zwei weitere Koordinatoren von ähnlichen Fällen. Infolge der immer stärkeren Betonung der Autonomie der Bewohner(innen) und gesetzlicher Entwicklungen (Patientenverfügungsgesetz, BGH-Urteile) stellt sich die Frage, welche Interventionsmöglichkeiten Pflegeeinrichtungen haben, wenn Betreuer(innen) im Einvernehmen mit Ärzten die Beendigung der Ernährung anordnen. Kann, darf oder muss man als kirchlicher Träger allen Anordnungen des Betreuers/der Betreuerin Folge leisten? Nehmen wir als dem christlichen Menschenbild verpflichtete Einrichtungen Personen auf, die nicht mehr ernährt werden wollen (oder dürfen) und bei denen Zweifel an der Entscheidung bestehen?
Die Gruppe der Ethik-Koordinatoren hat nicht die Möglichkeit, solche komplexen Fragen ethisch und rechtlich ausreichend aufzuarbeiten. Deshalb wird das Ethik-Komitee für die Altenhilfeeinrichtungen der Marienhaus Stiftung beauftragt, dazu eine Empfehlung zu erarbeiten.
Empfehlungen werden erarbeitet
Bei jeder Sitzung des Ethik-Komitees ist ein Ethik-Koordinator anwesend. Der Bericht über die Aktivitäten der Ethik-Koordinatoren ist obligatorischer Bestandteil der Tagesordnung. Das Ethik-Komitee beschließt nach Anhörung der Ethik-Koordinatoren, eine Empfehlung zu erarbeiten mit dem Titel: „Was Pflegende tun können, wenn die Einstellung der Ernährung oder anderer medizinischer Maßnahmen angeordnet wird“. Da im Ethik-Komitee unterschiedliche Berufsgruppen vertreten sind (Geriater, Pflegende, Juristen, Heimleiter), werden arbeitsteilig relevante Fakten zusammengetragen und anschließend in einer Stellungnahme zusammengefasst. Das Ergebnis wird auf der nächsten Heimleitungskonferenz vorgestellt, diskutiert und ergänzt. Nach der Genehmigung durch die Geschäftsführung und den Stiftungsvorstand (auch in diesen Gremien wird intensiv diskutiert) wird die Empfehlung allen Mitarbeitenden in den Altenhilfeeinrichtungen und Hospizen zur Verfügung gestellt. Dabei wird darauf geachtet, dass der Text nicht nur für Fachleute, sondern für alle Mitarbeiter(innen) gut zu verstehen ist.
Das Ethik-Komitee hat in den vergangenen Jahren auf ähnliche Weise die Einrichtungen unterstützt. So wurden zum Beispiel „Empfehlungen zur Anlage einer Magensonde“ erarbeitet oder der Standard zum Umgang mit Bewohnern, die mit multiresistenten Keimen (MRSA) besiedelt sind, weiterentwickelt, da in einigen Einrichtungen eine zu starke Isolierung dieser Personengruppe vorgenommen wurde. Darüber hinaus führt das Ethik-Komitee Fortbildungen zu ethischen Themen durch und ist Garant für die Beachtung und Weiterentwicklung des Ethik-Konzepts für die Einrichtungen der Marienhaus Stiftung. Als Teil dieses Konzepts wurde im Dialog mit den Einrichtungen ein „Ethisch fundierter Verhaltenskodex“ entwickelt, in dem ethische Prinzipien auf praktische alltagsrelevante Situationen angewendet werden.
Ethische Reflexion geht nicht so einfach nebenbei
Durch die vom Hausarzt verordnete Flüssigkeitsgabe dauerte es fünf Wochen, bis Frau M. starb. Diese lange Sterbephase belastete die Mitarbeiter(innen) stark und führte gleichzeitig zu einer nachhaltigen Irritation in dem betroffenen Altenheim. Auf diese Situation war die Einrichtung nicht ausreichend vorbereitet. Mit Hilfe eines externen Moderators (Ethik-Koordinator) und der Unterstützung durch das Ethik-Komitee wurden Vorbereitungen für ähnliche Fälle getroffen. Dabei wurde der Träger der Einrichtung mit seinen Wertvorstellungen intensiv einbezogen und eine Arbeitshilfe entwickelt, die für alle Altenhilfeeinrichtungen und Hospize der Trägerschaft eine wertvolle Unterstützung darstellt.
Dies ist ein Beispiel für ethische Reflexionen, die zu einer lernenden Organisation beitragen und Mitarbeiter(inne)n Unterstützung in belastenden Situationen ermöglichen.
In komplexen Organisationen reicht es nicht, einzelnen Personen die Verantwortung und Entwicklung eines werteorientierten Handelns zuzuschreiben. In der gesamten Organisation bedarf es organisierter Räume, Kontexte, Regeln und Rituale der gemeinsamen ethischen Auseinandersetzung, um die Herausforderungen und möglichen Widersprüche zu bedenken und zu bearbeiten. Ethische Diskursivität, speziell über das christliche Profil, bedarf entsprechender Organisationsformen und kommunikativer Orte.1 Damit ist Ethik kein „Sonntagsgeschäft“, das man sich in guten Zeiten zusätzlich leistet, sondern unlösbarer Bestandteil einer sich entwickelnden Organisation. Ethik reflektiert die moralische Ausrichtung einer Organisation und benötigt dafür feste Formen und Strukturen der Verständigung. „Es braucht sozusagen eine Ethik der Organisation und eine Organisation der Ethik. Sonst behält die Ethik ihre ‚organisationale Unschuld‘ und die Organisationen bleiben ethisch ‚unschuldig‘“2.
Anmerkungen
1. Krobath, Thomas; Heller, Andreas: Ethik organisieren. Freiburg, 2010, S. 19.
2. A.a.O., S. 20.