Ethik gleicht einem Mannschaftssport
Auf unserem Stockwerk in der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes (DCV) gibt es drei Sorten Kaffeetrinker: erstens die Anhänger des Fairtrade-Kaffees, zweitens die Konsumenten von exklusiven Kaffeekapseln und drittens die Fans des klassischen italienischen Espressos. Es lässt sich nun in kreativen Pausen nicht vermeiden, dass nicht nur darüber diskutiert wird, welcher Kaffee am besten schmeckt, sondern auch darüber, welcher Kaffeekonsum ethisch "einwandfrei" sei.
Dabei kann die Frage "Was ist das Richtige?" ganz unterschiedlich beantwortet werden: Ökonomisch kalkulierende und nutzenorientierte Menschen werden jene Alternative wählen, die den meisten Nutzen generiert.1 Währenddessen wird in einer juristischen Betrachtung darauf geachtet, dass sie rechtlich einwandfrei ist.
Ein(e) Ethiker(in) wäre hingegen schlecht beraten, nähme er/sie sich die Ökonomie oder das Recht als Vorbild. Die Leitfrage der Ethik ist eine eigene und hat laut Aristoteles ein gutes und gelingendes Leben zum Ziel. Aristoteles beschreibt einen ethisch empfindenden und denkenden Menschen als klugen und erfahrenen Bogenschützen, der das Ziel vor Augen hat und mit Leichtigkeit die richtigen Entscheidungen, das heißt ins Schwarze, trifft.2
Ferner weiß Aristoteles darum, dass selbst ein kluger und erfahrener Mensch bei aller wünschenswerten inneren wie äußeren Autarkie (Unabhängigkeit, Selbstständigkeit) nur in Gemeinschaften ein gelungenes Leben führen kann.3 Somit wird Ethik zu einer hochpolitischen Angelegenheit und ein notwendiges Übel für Besserwisser: Es geht nun nicht darum, im privaten Kämmerlein über das Gute, das Wahre und Schöne zu sinnieren, sondern sich gemeinsam über eine angemessene Praxis und über Rahmenbedingungen zu verständigen und diese umzusetzen.
Auch in der Dienstgemeinschaft Caritas haben dies Menschen immer wieder erkannt. Die Alltagswirklichkeit konfrontiert mit zahlreichen ethischen Herausforderungen: Wie wird mit der Unterschiedlichkeit von Mitarbeitenden umgegangen? Wo sind Räume für eine angstfreie Fehler- beziehungsweise Feedbackkultur? Wie kann den Bedürfnissen der Klient(inn)en am besten entsprochen werden? Derartige Fragen stellen sich in komplexen Situationen, in denen neben fachlichen Gesichtspunkten zudem die Interessen, Rechte und Werte der Betroffenen berücksichtigt werden müssen. Auf der Suche nach einer angemessenen Antwort umfasst Ethik daher weniger das Antreten einzelner Bogenschützen, sondern ist oftmals vergleichbar mit einem Mannschaftssport, der seinen eigenen Regeln folgt. Eine Mannschaft tritt hier an die Stelle eines einzelnen lebensklugen Menschen. Allerdings gibt es in diesem Fall keine Profi- und Amateurliga, "sondern [ethisches Reflektieren ist] eine Aufgabe und Fähigkeit aller Menschen und damit auch aller ehrenamtlichen und beruflichen Mitarbeiter(innen)"4. Deutlich wird dies an der Zusammensetzung solcher Mannschaften, den sogenannten Ethikkomitees, in denen selten ein(e) akademische(r) Ethiker(in) zu finden ist. Ethisches Reflektieren und Gestalten soll integraler Bestandteil der Gemeinschaft beziehungsweise der Organisation selbst sein. Sie soll Kommunikationsräume für alle Beteiligten öffnen, in das Prozessgeschehen eingebunden sein und dabei auch Verantwortung übernehmen.5 Damit ist jenen Rollenzuschreibungen von Ethik zu widersprechen, die diese als subversive Kraft oder Mitläuferin in Organisationen interpretieren oder durch einen einsamen enthobenen Entscheider verkörpert sehen, der von außen in die Abläufe von Organisationen machtvoll eingreift.
Pionierleistung von Kliniken
Die Implementierung von Ethikkomitees war in Deutschland eine "Pionierleistung der konfessionellen Krankenhäuser"6. Bereits 1997 gab der Katholische Krankenhausverband Deutschland (KKVD) gemeinsam mit dem Deutschen Evangelischen Krankenhausverband (DEKV) eine detaillierte Empfehlung an ihre Mitglieder heraus, "Klinische Ethikkomitees" an den einzelnen Krankenhäusern einzurichten. "Das christliche Erbe hat sich stets auch in einer ethisch verantworteten Kultur erwiesen […]. Um dieses Verantwortungsbewusstsein weiter zu stärken und in allen Bereichen des Krankenhauses zu fördern", sollen Ethikkomitees gegründet werden, "die sich im Rahmen rechtsstaatlicher Gegebenheiten und unserer christlich-kirchlichen Leitbilder bewegen"7. Ein weiterer bedeutsamer Impuls für die Einrichtung von Ethikkomitees in Krankenhäusern war die Aufnahme der Frage nach vorhandenen Ethikstrukturen in diversen Zertifizierungsverfahren.
DCV unterstützt Ethikberatung
Der Deutsche Caritasverband hat bei der Implementierung von Ethikberatungen von Anfang an mitgeholfen.8 Das Projekt "Ethik im Management christlicher Organisationen" startete im März 2013. Ziel ist es, geeignete Instrumentarien für ethisch relevante Entscheidungen und betriebsinterne Prozesse zu entwickeln. Dadurch sollen (Management-)Entscheidungen im Bereich der Geschäftsführungen, Direktorien und Leitungsgremien unterstützt werden.
Außerdem lädt der DCV seit 2009 jährlich zum Forum Ethik in der Caritas ein, das dieses Jahr am 9. und 10. April stattfinden wird. Auf dem Forum werden Fachthemen diskutiert und der Austausch unter Ethikgremien, -beauftragten und ethisch Interessierten gefördert. Überdies etablierte sich als ein wichtiges Forum der Zusammenarbeit der eigenständige "Arbeitskreis der Ethik-Beauftragten kirchlicher Träger im Gesundheitswesen".
Caritas-Dokumente aus jüngerer Zeit betonen ferner regelmäßig den Stellenwert von ethischen Beratungsstrukturen: Laut den "Leitlinien für unternehmerisches Handeln der Caritas" braucht jedes Unternehmen der Caritas "Formen und Modelle der eigenen […] ethischen Reflexion" und schafft "auf allen Ebenen der Organisation Räume und Strukturen für die Reflexion ethischer Fragen und Konflikte und fördert damit eine ethisch fundierte Entscheidungskultur"9. Die Notwendigkeit einer ethischen Reflexion für die christliche Unternehmenskultur wurde auch in den "Rahmenbedingungen einer christlichen Unternehmenskultur in Caritas und Diakonie"10 wiederholt. In seinen Strategischen Zielen hat sich der Vorstand des DCV verpflichtet, bis Ende 2013 die Positionen und Dienstleistungen des Verbandes ethisch zu profilieren.
Es gibt viele Formen und Modelle, den "Mannschaftssport Ethik" zu betreiben. Allein im Blick auf die Krankenhäuser listet der Medizinethiker Arnd May neunzehn unterschiedliche Bezeichnungen von ethischer Beratung auf: vom klassischen Ethikkomitee über den/die Ethikberater(in) bis hin zum Ethik-Café und zur Seelsorge.11
Etwas Besonderes: trägerübergreifende Ethikgremien
Eine Caritas-Besonderheit ist die Existenz von trägerübergreifenden Ethikgremien auf Bistums- beziehungsweise regionaler Ebene. Den Anstoß zu deren Errichtung gaben der Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) und die Kommission für caritative Fragen der Deutschen Bischofskonferenz. Sie regten im Jahre 2007 an, dass "… auf Bistums- oder regionaler Ebene in Zusammenarbeit mit Ethikern und Moraltheologen eine Projektgruppe Ethik errichtet werden [sollte]"12. Fünf Jahre danach existieren laut einer Umfrage der Arbeitsstelle Theologie und Ethik im DCV derzeit dreizehn solcher Ethikgremien. Durch die Pluralität und Nähe dieser Gremien zu den Einrichtungen und Diensten der Caritas ist es möglich, auf ethische Herausforderungen angemessene Antworten für die konkrete Situation vor Ort mit Beteiligung der Betroffenen zu entwickeln.
Die Ethikgremien wurden entweder vom jeweiligen Diözesan-Caritasverband, von der Bistumsleitung, von beiden gemeinsam oder von großen Trägerorganisationen im Gesundheits- und Sozialwesen ins Leben gerufen. Dort, wo die verbandliche Caritas (Mit-)Begründerin war, fällt in der Regel die Geschäftsführung an Mitarbeiter(innen) des jeweiligen Verbandes. Grundsätzlich bestehen diese Gremien aus circa sieben bis fünfzehn Mitgliedern. Darin vertreten sind unter anderem Mediziner(innen), Theolog(inn)en, Seelsorger(innen), Sozial- und Rechtswissenschaftler(innen), Pflegefachleute, Leitungen von Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens und Mitglieder von Selbsthilfe- und Angehörigengruppen. Einige Gremien bestimmen ihre Sitzungsintervalle nach Bedarf, andere folgen einem festen Rhythmus von beispielsweise viermal im Jahr. Dem bisherigen Kenntnisstand zufolge arbeiten die Ethikgremien frei und ergebnisoffen und unterliegen keiner Weisungsbefugnis.
Das jeweilige Selbstverständnis und die Ziele und Aufgabenbeschreibungen der unterschiedlichen Gremien ähneln sich. In seinem der Öffentlichkeit zugänglichen Positionspapier erklärt das "Ethikforum im Bistum Münster"13, dass vor allem die Einrichtungen und Dienste der Caritas mit ihren beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden in ihrer alltäglichen Arbeit ethischen Fragen begegnen, "die sich in der Betreuung von Klienten und Patienten ergeben und bis zu organisationsethischen Fragen der Einrichtungen und Dienste auf dem Markt sozialer Dienstleistungen reichen". Daher will das Ethikforum solche Fragen reflektieren und "damit einen Beitrag leisten zur Stärkung der ethischen Entscheidungskultur und zur ethischen Kompetenzbildung". Als ihre Aufgaben betrachtet sie erstens, durch geeignete Initiativen (Tagungen, Diskussionstische, Debatten) für die ethische Dimension karitativen und seelsorglichen Handelns zu sensibilisieren; zweitens durch Erarbeiten von Empfehlungen oder Zurverfügungstellung von geeigneten Leitlinien eine Orientierungshilfe für die Arbeit vor Ort zu bieten. Drittens werden die Einrichtungen und Dienste unterstützt, selber ethische Kompetenz aufzubauen, damit ethische Konflikte vor Ort zum Beispiel durch ethische Fallbesprechungen reflektiert werden.
Bisher betrifft ein großer Anteil der von den Ethikgremien erarbeiteten Voten, Empfehlungen, Workshops und Fortbildungen den Gesundheits- und Pflegebereich. Eine Ausnahme bildete beispielsweise die Positionierung des Diözesanen Ethikrates im Erzbistum Paderborn "Gerechter Lohn für hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen und Diensten" 14.
Ethik hat Konjunktur
In Gemeinschaften, in denen im Zentrum konkretes Handeln steht, durch das individuelle Not gelindert wird, wird der ethische Diskurs fortgesetzt und intensiver werden. Einrichtungen und Dienste der Caritas handeln im Spannungsfeld von professionellem Handeln, Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit. Die Kultur einer christlichen Organisation entwickelt sich so in der Gestaltung dieser spannungsreichen Differenz. Ethik kann dabei helfen, die Verschiedenartigkeiten wahrzunehmen, sich darüber auszutauschen und tragfähige Entscheidungen zu finden. Aus diesen Gründen wird die "Ethik-Konjunktur" in absehbarer Zeit bestehen bleiben.
Dass Ethik nicht automatisch zu uniformen Verhaltensregeln führt, sondern integraler Bestandteil einer Kultur von freien Entscheidungsträger(inne)n ist, wird den Kolleg(inn)en im vierten Stockwerk täglich im Kleinen vor Augen geführt. Die meisten haben sich über den Kaffeekonsum ihre Gedanken gemacht und gemeinsam eine Entscheidung getroffen.
Anmerkungen
1. Vgl. Wiggins, David: Deliberation and Practical Reason. In: ders.: Needs, Values, Truth. 3. Aufl., Oxford, 1998.
2. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Erstes Buch, 1, 1094a 20.
3. Ebd., Neuntes Buch, 9, 1169b 18.
4. Siehe dazu Kostka, Ulrike; Riedl, Anna M.: Ethisch entscheiden im Team. Ein Leitfaden für soziale Einrichtungen. Freiburg : Lambertus, 2009, S. 23.
5. Ergebnis einer Arbeitsgruppe beim Workshop "Ethikberatung im Bereich organisatorischer und ökonomischer Fragen" der AK Ethik-Beauftragter christlicher Trägerorganisationen mit Geschäftsführer(inne)n am 14. November 2012 in Koblenz.
6. May, Arnd T.: Ethikberatung - Formen und Modelle. In: Heinemann, Wolfgang et al. (Hrsg.): Ethik in Strukturen bringen. Freiburg : Herder, 2010, S. 101.
7. Katholischer Krankenhausverband Deutschlands; Deutscher Evangelischer Krankenhausverband (Hrsg.): Ethik-Komitee im Krankenhaus. Einführung von klinischen Ethikkomitees in konfessionellen Krankenhäusern. Freiburg, 1997, S. 5.
8. Kostka, Ulrike; Riedl, Anna M.: Ethisch entscheiden im Team. Ein Leitfaden für soziale Einrichtungen. Freiburg : Lambertus, 2009.
9. Deutscher Caritasverband: Leitlinien für unternehmerisches Handeln der Caritas. In: neue caritas Heft 20/2008, S. 31-39.
10. DCV; Diakonisches Werk der EKD: Rahmenbedingungen einer christlichen Unternehmenskultur. In: neue caritas Heft 18/2011, S. 34-40.
11. May, Arnd T.: Ethikberatung - Formen und Modelle, a.a.O., S. 89, S. 101.
12. Arbeitshilfen Nr. 209: Das Profil sozialer Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft im Kontext von Kooperation und Fusion. März 2007, S. 23.
13. Siehe dazu Ethikforum im Bistum Münster, Positionspapier zum Verständnis des "Ethik-Forums", Stand 15. September 2009.
14. www.caritas-paderborn.de/41864.html