Eine gute Gesundheitsversorgung muss für alle da sein
Menschen mit Behinderung, immobile Menschen, Demenzkranke und junge Suchtkranke haben eines gemeinsam: Sie haben einen besonders eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung.1 Mit ihren speziellen Problemen und konkreten Lösungsmöglichkeiten hat sich das Projekt des Deutschen Caritasverbandes "Soziale Gesundheit für alle! Der Beitrag der Caritas" auseinandergesetzt. Für die genannten Gruppen ist der Zugang zu einer adäquaten medizinischen und pflegerischen Versorgung besonders erschwert, beispielsweise wenn sie einen Haus- oder Facharzt benötigen oder eine Praxis, Ambulanz oder ein Krankenhaus aufsuchen müssen. Manchmal mangelt es aber auch an der Koordination der Gesundheitsversorgung.
Um die Versorgung zu optimieren, muss die Ausbildung der Gesundheitsprofessionen, die Infrastruktur, die Beratung, Begleitung und Hilfestellung bei gesundheitlichen und gesundheitsförderlichen Maßnahmen verbessert werden. Hier sind nicht nur die Gesundheitsberufe und -einrichtungen, sondern auch Krankenkassen, Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Caritas mit ihren ehrenamtlichen und professionellen Hilfs- und Beratungsangeboten gefragt. Sie müssen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen übernehmen.
Grundsätzlich sollten alle Einrichtungen der Gesundheitsversorgung barrierefrei erreicht werden können. Viele Menschen haben aufgrund ihres Alters oder körperlicher Einschränkungen Schwierigkeiten, die Angebote der Gesundheitsversorgung aufzusuchen. Deshalb müssen diese Angebote an die Bedarfe der Menschen angepasst werden. Um Gesundheitseinrichtungen überhaupt erst erreichen zu können, muss häufig viel früher angesetzt werden: bei der Barrierefreiheit der Wohnungen, der öffentlichen Infrastruktur und Verkehrsmittel.
Immobilen Patienten den Zugang erleichtern
Im Idealfall kann ein Patient auf familiäre Unterstützung zurückgreifen, wenn es darum geht, ihn in die Sprechstunde oder zur Krankengymnastik zu bringen oder ein Rezept abzuholen. Wer keine Angehörigen hat, ist auf andere Menschen angewiesen, die sich um ihn kümmern, beispielweise Freiwillige von Nachbarschafts-, Besuchs-, Begleit- und Fahrdiensten.
Auch die Gesundheitsangebote können mobil werden und zum Patienten kommen: zum Beispiel indem ein Arzt in einer bestimmten Region regelmäßig vor Ort Sprechstunden abhält. Pflegekräfte könnten bei immobilen Menschen medizinisch-pflegerische Leistungen selbstständig erbringen. Dazu müssen sie jedoch entsprechend ermächtigt werden.
Eine bessere Abstimmung der verschiedenen Behandlungsschritte wie Hausarztbesuch, spezielle Diagnostik und Therapie beim Facharzt sowie Rezeptausstellung und -einlösung könnte die Nachteile für immobile Patienten mildern. Ein möglicher Baustein dazu wäre, ein Fallmanagement zur Koordinierung der gesundheitlichen Versorgung einzuführen.
Damit Menschen möglichst lange mobil bleiben, sollten geriatrische Assessments und präventive Hausbesuche zur Erstellung von passgenauen koordinierten Hilfeplänen eingeführt werden. Auch der Ausbau der mobilen (geriatrischen) Rehabilitation kann dazu beitragen. Der Einsatz und die Finanzierung technischer Kommunikations- und Hilfsmittel (Telemedizin, Telecare) könnte die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Bewegungseinschränkungen ebenfalls verbessern.
Angehörige in pflegerische Tätigkeit einbeziehen
Bereits heute leben in Deutschland etwa 1,1 bis 1,2 Millionen Menschen mit Demenz. Diese Zahl wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung in nicht allzu ferner Zukunft fast verdoppeln. Darauf müssen sich die Gesundheitseinrichtungen und die Gesundheitsberufe einstellen. Geriatrische und gerontopsychiatrische Kenntnisse müssen in der Ausbildung von Gesundheitsberufen ausreichend verankert werden. Die Abläufe im Krankenhaus müssen dahingehend angepasst und die gerontopsychiatrischen Versorgungsstrukturen ausgebaut werden.
Da die meisten gerontopsychiatrisch erkrankten Menschen von ihren Angehörigen zu Hause betreut werden, müssen diese entsprechend geschult werden, um eine Veränderung oder Verschlechterung des Gesundheitszustands der alten Menschen rechtzeitig wahrnehmen zu können. Angehörige sollten zudem aktiv in die medizinisch-pflegerische Behandlung und in Rehabilitationsmaßnahmen einbezogen werden. Dadurch wird der Behandlungserfolg gesichert.
Anreizstrukturen für bessere Versorgung schaffen
Gemäß der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung sollen diese einen angemessenen Zugang zu Gesundheitsleistungen erhalten. Unser Gesundheitssystem ist jedoch auf die Behandlung von Menschen mit Behinderung häufig nur unzureichend eingestellt. Um ihnen gerecht zu werden, müssen deshalb Anreizstrukturen - etwa finanzieller Art - für eine bessere Versorgung im Gesundheitssystem geschaffen werden.
Nötig ist, dass die Zusammenhänge zwischen Behinderung und Krankheit bereits in der Aus-, Fort- und Weiterbildung und im Studium der verschiedenen Gesundheitsprofessionen thematisiert werden. Besonders betroffen sind Patient(inn)en mit Mehrfachbehinderungen und kognitiven Beeinträchtigungen, die in ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt sind und/oder herausfordernde Verhaltensweisen zeigen. Selbst einfache Untersuchungen können bei ihnen mehr Zeit, spezielle Begleitung und fachliche Kenntnisse benötigen.
Deshalb müssen Voraussetzungen für eine bessere verbale und nonverbale Kommunikation zwischen den Mitarbeiter(inne)n in den Gesundheitseinrichtungen und Patient(inn)en mit Behinderung geschaffen und vorgehalten werden. Die Vergütung für diese Leistungen in Krankenhäusern und im ambulanten Bereich muss an die Vorhaltung von entsprechend qualifiziertem Personal und den behinderungsbedingten Mehraufwand angepasst werden.
Krankenhäuser sollten grundlegende Verfahren zur Aufnahme, Behandlung und Entlassung von Menschen mit Behinderung festlegen. Bereits vor der Aufnahme ins Krankenhaus sollten - gegebenenfalls durch einen Besuch zu Hause - die besonderen Bedarfe und Voraussetzungen für die Behandlung abgeklärt werden.
Insbesondere für Medikamente und Heilmittel, auf die Menschen mit Behinderung oftmals vermehrt angewiesen sind, müssen die Budgets der Ärzte in der ambulanten Versorgung erweiterungsfähig sein. Die Ärzte müssen zudem auf die Möglichkeit hingewiesen werden, den behinderungsbedingten Mehraufwand auch als Praxisbesonderheit geltend machen zu können.
Für eine erfolgreiche Diagnostik und Behandlung bei Menschen mit Behinderung ist es zudem wichtig, dass Angehörige und Bezugspersonen einbezogen werden, insbesondere wenn es um die Zustimmung zu bestimmten Behandlungsmethoden wie etwa Operationen geht. Wenn es medizinisch geboten ist, sollten Menschen mit Behinderung oder Demenz nicht nur Assistenzpersonen, die sie selbst bezahlen, sondern auch andere vertraute Assistenzpersonen ins Krankenhaus und in die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung mitnehmen können.
Um die Versorgung von Menschen mit Behinderung zu optimieren, müssen außerdem die Dienste und Einrichtungen des Gesundheitssystems inklusive der Heilmittelerbringer, der Hilfsmittelversorgung, der Sanitätshäuser und Apotheken besser zusammenarbeiten. Für bestimmte Erkrankungen oder Behinderungen wie beispielweise Epilepsie ist deshalb auch die Schaffung überregionaler Kompetenzzentren zu prüfen.
Fristen für Hilfemaßnahmen festlegen
Auch Jugendliche mit Suchtproblemen zählen zu den Gruppen mit erschwertem Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung. Um ihnen helfen zu können, muss die kommunale Hilfeplanung besser koordiniert werden. Die Jugendlichen haben vielfach nicht nur in diesem Bereich Probleme. Häufig haben sie zu Hause Gewalt erfahren. Ihre Eltern sind oft mit der Erziehung überfordert und haben selbst Probleme mit Suchtmitteln. Daher sind schnelle und fachlich fundierte Entscheidungsprozesse notwendig, bei denen die Akteure unterschiedlicher Hilfesysteme effektiv und zielgerichtet zusammenarbeiten. Leider gibt es oft schon bei der Frage der Zuständigkeit keine Klarheit, was den Hilfeprozess verzögert.
Deshalb ist die Entwicklung von Steuerungs- und Entscheidungsinstrumenten zur fachlichen Indikationsstellung notwendig, damit, ungeachtet der tatsächlichen Leistungszuständigkeit, schnell geholfen werden kann. Es ist nötig, Fristen festzulegen: etwa sechs Wochen, innerhalb derer eine Entscheidung über eine Hilfemaßnahme getroffen sein sollte.
Anmerkung
1. Weitere Personengruppen und Lebenslagen mit eingeschränktem Zugang zur Gesundheitsversorgung finden sich in den Sozialpolitischen Positionen des DCV zur Kampagne 2012 "Armut macht krank" (s. neue caritas Heft 4/2012, S.33 ff. und www.caritas.de/kampagne2012/forderungen).