Der Fonds Heimerziehung kam spät – aber nicht zu spät
Von den ersten Berichten ehemaliger Heimkinder in den 70er Jahren über ihre Unrechtserfahrungen bis zur Einrichtung des Fonds Heimerziehung im Januar 2012 sind viele Jahre verstrichen - für manche Betroffene zu viele Jahre. Auch heute noch ist es für viele ein Stigma, ein Heimkind gewesen zu sein. Sie leiden nach wie vor unter ihren damaligen Erfahrungen, die sie ein Leben lang nicht vergessen können. Aus ihrer Perspektive war die Schaffung des Fonds Heimerziehung, der sie bei der Bewältigung dieses Leids unterstützen kann, überfällig. Es gibt auch einige Betroffene, die nicht mehr gewillt sind, irgendeine Form von Unterstützung entgegenzunehmen, die von den Nachfolgern der damals Verantwortlichen angeboten wird. Für andere, die die Beratungen und die finanzielle Unterstützung angenommen haben, ist der Fonds eine willkommene Hilfe und bisweilen sogar ein Segen. Sie konnten auf diese Weise mit einem ungeliebten Teil ihrer Biografie abschließen und ihre gegenwärtige Lebenssituation zumindest teilweise verbessern.
Hilfe kommt trotz Anfangsschwierigkeiten an
Der Fonds Heimerziehung West besteht nun seit einem Jahr. Trotz einiger Startschwierigkeiten haben die Betroffenen die Leistungen gut angenommen:
- Im Jahr 2012 sind insgesamt knapp 23 Millionen Euro aus dem Fonds ausgezahlt worden (Folgeschädenfonds: knapp neun Millionen Euro, Rentenersatzfonds: knapp 14 Millionen Euro).
- Von Januar bis Ende September 2012 wurden 2142 Vereinbarungen zwischen den Betroffenen, den Berater(inne)n in den Anlauf- und Beratungsstellen und der Geschäftsstelle getroffen. Dabei überwogen die Rentenersatzleistungen mit insgesamt 1129 Vereinbarungen gegenüber 1013 Vereinbarungen über Hilfen bei Folgeschäden.
- Über das auf der Internetseite des Fonds eingestellte Formular sind in diesem Zeitraum 834 Anfragen eingegangen, die an die jeweilige Anlauf- und Beratungsstelle weitergeleitet wurden.
- 2177 Anrufer(innen) haben bis zum 30. September 2012 Kontakt über das Info-Telefon des Fonds aufgenommen.
- Im letzten Quartal 2012 hat die Inanspruchnahme des Fonds tendenziell noch zugenommen.
Die Startschwierigkeiten in den ersten Monaten betrafen insbesondere die sogenannte Verzichtserklärung, die Frage der Anrechenbarkeit von Leistungen aus dem Fonds auf Leistungen aus den Sozialhilfesystemen sowie in einzelnen Anlauf- und Beratungsstellen die Qualität der Beratung und die Erreichbarkeit. Diese und weitere, kleinere Probleme konnten weitgehend zugunsten der Betroffenen ausgeräumt werden.
Stein des Anstoßes war die Verzichtserklärung
Die Verzichtserklärung sollte gewährleisten, dass Betroffene nach Erhalt von Leistungen aus dem Fonds nicht erneut Forderungen gegen die Errichter des Fonds aufstellen. Dies empfanden viele Betroffene jedoch als eine Zumutung; sie waren nicht bereit, nach einem entbehrungsreichen Leben aufgrund ihrer Heimbiografie irgendeinen weiteren Verzicht in diesem Zusammenhang zu erklären. Die Verzichtserklärung ist deshalb durch eine sogenannte "abschließende Erklärung" ersetzt worden, die nicht mehr von den Betroffenen unterschrieben werden muss und in der die Errichter klarstellen, dass die Leistungen des Fonds Heimerziehung freiwillige Leistungen sind und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht gewährt werden. Darüber hinaus verständigten sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die kommunalen Spitzenverbände darauf, Leistungen aus dem Fonds nicht als Einkommen anzurechnen, damit Bezieher(innen) von Sozialleistungen nicht benachteiligt werden.
Die Anzahl der Beschwerden Betroffener, die der Geschäftsstelle gemeldet worden sind, war im ersten Halbjahr 2012 mit 24 gering und im zweiten Halbjahr weiter rückläufig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in allen Ländern inzwischen ein funktionierendes Beschwerdemanagement eingerichtet wurde. Einige Bundesländer haben auch Fachbeiräte zur Begleitung der Arbeit der Anlauf- und Beratungsstellen etabliert.
Das erste Jahr verlief positiv
Der Fonds Heimerziehung hat eine Unterstützungsmöglichkeit für Betroffene geschaffen, für die es kein Vorbild gab. Zudem ist die Kooperation von Bund, Bundesländern und Kirchen mit ihren Wohlfahrtsverbänden und Orden in dieser Form wohl einzigartig. Vor diesem Hintergrund kann das erste Jahr des Fonds Heimerziehung positiv eingeschätzt werden. Daneben sind jedoch einige Herausforderungen für den Fonds deutlich geworden, die in der nächsten Zeit bearbeitet werden müssen.
- Der Teil des Fonds, der Rentenersatzleistungen gewährt, ist wesentlich stärker in Anspruch genommen worden, als es der "Runde Tisch Heimerziehung" vermutet hatte. Voraussichtlich werden zum Ende des ersten Quartals 2013 Leistungen für den Rentenersatzfonds in Höhe von 19 Millionen Euro verausgabt sein. Deshalb ist eine Umschichtung von Mitteln aus dem Folgeschädenfonds auf den Rentenersatzfonds notwendig. Erste Maßnahmen dazu sind bereits ergriffen worden.
- Es waren Berichte von ehemaligen Heimkindern aus Einrichtungen der Kinder- und Jugendfürsorge, die im Jahr 2009 zum "Runden Tisch Heimerziehung" geführt haben. Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte sind die Leistungen des Fonds auf Betroffene ausgerichtet, die in der frühen Bundesrepublik in einer solchen Einrichtung gewesen sind. Andere Betroffene, die beispielsweise in einer Einrichtung der Behindertenhilfe lebten und dort ebenfalls Erfahrungen von Demütigung oder Misshandlung machen mussten, werden von den Leistungen des Fonds nicht erfasst. Dies hat gerade bei Betroffenen aus Behinderteneinrichtungen zu Frustrationen geführt. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, hat deshalb mehrfach dazu aufgerufen, für diese Menschen schnellstmöglich vergleichbare Angebote zu entwickeln, und die Beteiligung der katholischen Kirche an entsprechenden Überlegungen zugesichert.
- Neben dem Fonds Heimerziehung gibt es von der katholischen Kirche seit März 2011 entschädigungsähnliche Leistungen in Anerkennung des Leids, das von sexuellem Missbrauch Betroffenen zugefügt wurde; auch von der evangelischen Kirche wird teilweise entsprechende Unterstützung gewährt. Weiterhin ist ein sogenanntes ergänzendes Hilfesystem in Vorbereitung, das auf Empfehlungen des Abschlussberichts des Runden Tisches der Bundesregierung "Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" zurückgeht. Diese Modelle unterscheiden sich bezüglich der Anspruchsberechtigten, der Leistungen, der Träger und auch der Antragsstellen; in manchen Bereichen gibt es auch Überschneidungen, beispielsweise bei ehemaligen Heimkindern, die sexuellen Missbrauch im Heim erleiden mussten. Für Betroffene ist es oft nicht einfach, diese Leistungsmodelle zu überblicken und dasjenige zu identifizieren, das für sie passt. Hier sind eine bessere Abgrenzung der Modelle voneinander und eine Hilfestellung notwendig, die Betroffene im Sinne einer Lotsenfunktion unterstützt.
Nach den Rückmeldungen aus den Anlauf- und Beratungsstellen überwiegt der Anteil derer, die sich mit dem Fonds arrangiert haben und mit seinen Leistungen zufrieden sind, bei weitem den Anteil der Unzufriedenen. Aus heutiger Perspektive kann resümiert werden: Der Fonds Heimerziehung kam zwar spät, aber nicht zu spät. Er gewährleistet Anerkennung des Leids sowie Beratung und Hilfe für die Betroffenen.