Altersarmut wird zum Alltagsphänomen
Die Debatte um die Alterssicherung in Deutschland hat sich verändert: Stand in der letzten Dekade die Frage der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Rentenversicherung im Vordergrund, geht es heute primär um die Absicherung der künftigen Rentnerinnen und Rentner: Es zeichnet sich deutlich ab, dass immer mehr ältere Menschen mit äußerst niedrigen Einkommen werden leben müssen. Schuld daran sind die Rentenreformen der vergangenen Jahre, eine Zunahme brüchiger Erwerbsverläufe und atypischer Beschäftigung sowie - das wird oft zu wenig berücksichtigt - steigende Kosten für das Leben im Alter. Drei Herausforderungen müssen sich alle Wohlfahrtsverbände stellen: der Politisierung des Problems, der Entwicklung von präventiven Lösungsansätzen und der Bereitstellung von kurativen Angebotsstrukturen vor Ort.
Die Renteneinkommen sinken
Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) sind die wichtigsten Einkommensquellen im Alter, und das wird auch in absehbarer Zukunft so bleiben. Der Alterssicherungsbericht der Bundesregierung 2012 führt aus, dass die GRV im gesamten Bundesgebiet 75 Prozent aller Alterssicherungsleistungen für über 65-Jährige ausmacht. Im Osten liegt der Anteil der GRV am gesamten Leistungsvolumen insgesamt bei 98 Prozent, im Westen bei 71 Prozent. Andere Leistungsarten, etwa aus betrieblicher Altersvorsorge oder Zusatzversorgungen, spielen im Osten keine, im Westen eine untergeordnete Rolle.1 Vermögenswerte sind gerade im Osten und bei Menschen mit brüchigen Erwerbsbiografien insgesamt gering und konzentrieren sich zudem vor allem auf die Menschen, die vergleichsweise hohe Rentenanwartschaften besitzen.
Vor diesem Hintergrund sind auch die sinkenden Rentenzahlbeträge zu interpretieren, die Tabelle 1 ausweist. Erkennbar wird, dass die Zahlbeträge für Neurentner (Neuzugänge) - also das Bruttoeinkommen - dramatisch unter den durchschnittlichen Zahlbeträgen für diejenigen liegen, die bereits Renten beziehen. Besorgniserregend ist auch die sich abzeichnende Tendenz: Betrug die Differenz zwischen Bestand und Neuzugängen im Jahr 2002 im Osten noch minus 130 Euro, liegt sie in 2010 bereits bei minus 182 Euro. Die insgesamt sinkenden Rentenwerte werden hier deutlich sichtbar - ebenso wie die erheblichen regionalen Unterschiede. Gerade im Osten fallen die Rentenbeträge rapide.
Die Rentenentwicklung hängt von sehr vielen Faktoren wie zum Beispiel von der ökonomischen Entwicklung und von politischen Reformen ab. Daher sind Prognosen schwierig. Dennoch: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) rechnet in seiner pessimistischeren Variante damit, dass die durchschnittlichen Renten in Ostdeutschland deutlich unter das Grundsicherungsniveau abrutschen. Die jüngsten untersuchten Altersgruppen ostdeutscher Männer liegen bei einem durchschnittlichen Erwartungswert von um die 600 Euro Renteneinkommen, während aktuell die ältesten Kohorten noch knapp 890 Euro monatlich beziehen. Hier zeigt sich der besorgniserregende Rückgang (minus 67 Prozent!) besonders deutlich.2
Zwei Hauptgründe für den Rentenrückgang sind auszumachen. Zum einen zeigen sich hier neben den Auswirkungen der Rente mit 67, die in vielen Fällen zu hohen Abschlägen führt, auch die Folgen einer Absenkung des Rentenniveaus durch den in die Rentenberechnung eingebauten Nachhaltigkeitsfaktor. Zum anderen setzt die auf dem Äquivalenzprinzip fußende Rentenversicherung weiterhin auf stabile Erwerbsbiografien, möglichst in Vollzeit. Das DIW zeigt jedoch in einer aktuellen Studie, dass im Zeitverlauf immer mehr Menschen von Teilzeit und Diskontinuitäten geprägte Erwerbsverlaufsmuster aufweisen. Der klassische Arbeitnehmer, der kontinuierlich vollzeitbeschäftigt ist, nimmt dagegen über die betrachteten Kohorten hinweg immer mehr ab. Das heißt: Immer weniger Menschen können auf eine auskömmliche Rente setzen.3 Das gilt vor allem in Ostdeutschland, wo in den nächsten zehn Jahren die Kohorten in Rente gehen, für die diskontinuierliche Erwerbsverläufe typisch sind.
Frauen arbeiten meist Teilzeit
In Westdeutschland liegt das Augenmerk häufig auf den Frauen. Gerade die heutigen Rentnerinnen folgten vielfach einem klassischen Familienmodell, bei dem die Frauen Hausfrauen waren. Zwar nimmt dies bereits bei den Babyboomer-Jahrgängen ab; gleichzeitig nimmt jedoch in erster Linie die Teilzeittätigkeit zu. Das DIW schreibt in seinem Wochenbericht 23/2012, dass Frauen, die die meiste Zeit ihres Erwerbslebens Vollzeit arbeiten, immer seltener werden, und dass auch bei den Frauen die Zahl der diskontinuierlichen Erwerbsverläufe - gerade in Ostdeutschland - steigt.
Die hier nur kurz skizzierten Trends spiegeln sich in der starken Zunahme bei der Grundsicherung im Alter wider - vor allem, wenn man die Dunkelziffer mit einrechnet, die sehr hoch ist. Fast 70 Prozent der älteren Leistungsberechtigten nimmt, so eine Auswertung von Armutsforscherin Irene Becker auf Basis des Sozioökonomischen Panels, die ihnen zustehenden
Leistungen nicht in Anspruch: aus Scham, aus Unkenntnis oder aus Angst, das Amt könne sie zum Umzug zwingen oder Ähnliches.4 Auf Basis dieser Befunde lassen sich die vom Statistischen Bundesamt ermittelten 436.000 Leistungsempfänger für 2011 auf rund 1,5 Millionen Anspruchsberechtigte hochrechnen. Die Tendenz ist steigend. Zu beachten ist, dass die Armutslage einer Person immer vom Haushaltskontext abhängt. Deswegen sind alleinlebende Personen im Alter häufiger von Armut bedroht als Paare. Dies betrifft weit überdurchschnittlich Frauen.
Geringverdiener haben keine Riester-Verträge
Insgesamt ist absehbar, dass Altersarmut in Zukunft immer mehr zu einem gravierenden Problem wird. Zum einen, weil diskontinuierliche Erwerbsverläufe zunehmen. Zum anderen weil die Rentensenkungen kaum durch geförderte private Altersvorsorge aufgefangen werden können. Aus Studien wie dem DIW-Wochenbericht 23/2012 wissen wir, dass gerade die Personen, die geringe Rentenanwartschaften aufweisen, kaum Riester-Verträge besitzen. Das heißt, es ist generell fragwürdig, ob Riester-Renten und dergleichen überhaupt einen Beitrag zur Vermeidung von Altersarmut leisten können, solange sie an den eigentlichen Zielgruppen vorbeigehen. Die Debatte ist in der Gesamtsicht jedoch noch zu stark auf die Einkommensseite konzentriert und lässt darüber hinaus zwei gravierende Faktoren außer Acht: die Kostenseite und die Frage der Infrastruktur.
Kumulierende Problemlagen
Mit Blick auf die Kosten sind besorgniserregende Tendenzen sichtbar. Als Ergebnis einer ersten Analyse im Rahmen einer beim Verbraucherzentrale Bundesverband angesiedelten Arbeitsgruppe wurde festgehalten, dass einige Kostenfaktoren die schwierige Lage Älterer häufig verschärfen. Exemplarisch lässt sich dies bei den Energie- und Heizkosten deutlich machen. Hier nimmt der Kostendruck immer mehr zu. Die Preissteigerungen waren in den letzten Jahren immens (seit 2005 um fast 50 Prozent für Energiebeiträge inklusive Benzin), mit der Folge, dass in Deutschland aktuell über "Energiearmut" diskutiert wird. Nach Angaben der Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen haben bis zu rund 15 Prozent der Bevölkerung Probleme, ihre Energiekosten zu decken. Wem dies nicht mehr gelingt, droht eine Stromsperre - mit allen gravierenden Folgen für die Lebens- und Wohnsituation. Wohnen wird aufgrund steigender Mieten in den Ballungsräumen ohnehin teurer. Ältere sind von diesen Entwicklungen keineswegs verschont - im Gegenteil. Auf sie kommen darüber hinaus viele weitere Kosten zu, die andere Gruppen nicht in dem Umfang haben, beispielsweise Kosten für Gesundheit und Pflege, aber auch für haushaltsnahe Dienstleistungen und Mobilität.
Strukturschwache Regionen schrumpfen und altern
Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Aspekt zu berücksichtigen, den beispielsweise der Deutsche Landkreistag mit Sorge beobachtet: Der demografische Wandel verläuft regional nicht homogen - er betrifft die Teilräume in höchst unterschiedlicher Weise. Schrumpfung und Alterung sind besonders in strukturschwachen Regionen zu beobachten. Auch hier ist gerade Ostdeutschland zu nennen, wo niedrige Geburtenraten nach der Wende und Binnenmigration in die Ballungsräume besonders durchschlagen. Viele ländliche Räume - nicht nur, aber vor allem im Osten - geraten in eine Abwärtsspirale: Einkaufsmöglichkeiten verschwinden, Buslinien schließen, Fachkräfte gehen.5
Die genannten Aspekte müssen zusammen betrachtet werden. Altersarmut hängt stark von individuellen Voraussetzungen ab: von der Einkommenssituation, vom Haushaltskontext. Von Einkommensarmut im Alter sind immer mehr Menschen betroffen. Die Kosten steigen insgesamt, was die Lage für ältere Menschen mit geringem Einkommen noch verschärft. Einige Regionen sind zudem von Überalterung und einer drohenden Erosion der Infrastruktur betroffen, was die Situation für die älteren Menschen, die dort leben, noch verschärft: Es geht nicht nur die alltägliche Infrastruktur verloren, sondern es fehlen vor Ort auch die Mittel und Strukturen, um die Betroffenen zu unterstützen. Auf Basis der Befunde der Armutsforschung muss man davon ausgehen, dass die Problemlagen vielerorts kumulieren. In Ostdeutschland ist in den nächsten Jahren mit gravierenden Problemen zu rechnen.
Die freie Wohlfahrtspflege hat sich in den letzten Jahren auf den Weg gemacht, die genannten Probleme anzugehen. An vielen Stellen ist es gelungen, das Problem zu artikulieren und zu politisieren. Die Arbeiterwohlfahrt hat auf ihrem Bundeskongress im November 2012 umfangreiche Beschlüsse verabschiedet, mit denen durch präventive Veränderungen des Rentensystems sowie im Bereich der Arbeit und Beschäftigung Verbesserungen der Einkommensseite gelingen können.6 Auch für eine solide und verlässliche Finanzausstattung der kommunalen Haushalte hat sich die AWO-Bundeskonferenz starkgemacht. (Die Eckpunkte des Deutschen Caritasverbandes zur Bekämpfung von Altersarmut sind in neue caritas Heft 03/2012, Seite 32 dokumentiert.)
Allerdings werden selbst die besten präventiven Maßnahmen für die Kohorten, die heute älter sind als 50 Jahre, zu spät kommen. Deswegen wird es in den kommenden Jahren darum gehen, konkrete Angebote zu entwickeln beziehungsweise weiterzuentwickeln, die vor Ort qualitativ hochwertige Unterstützung für ältere Menschen, die in Armut leben, bieten. Im Alleingang werden solche Lösungen nur schwer zu realisieren sein. Daher sind verbands- und trägerübergreifende Kooperationen unter Einbeziehung der Kommunen von Bedeutung. Mit einer Artikulierung der Problemlagen ist lediglich ein erster Schritt getan.
Anmerkungen
1. BMAS: Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht 2012 gemäß § 154 Abs. 2 SGB VI (Alterssicherungsbericht).
2. Geyer, Johannes; Steiner, Viktor: Künftige Altersrenten in Deutschland: Relative Stabilität im Westen, starker Rückgang im Osten. In: DIW-Wochenbericht 11/2010.
3. Simonson, Julia u.a.: Ostdeutsche Männer um 50 müssen mit geringeren Renten rechnen. In: DIW Wochenbericht Nr. 23/2012.
4. Becker, Irene: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. In: Zeitschrift für Sozialreform 2/2012.
5. Deutscher Landkreistag: Kreisentwicklungskonzepte als politisches Instrument zur Gestaltung des demografischen Wandels; Schriften des Deutschen Landkreistages Band 98/2011.
6. Alle Beschlüsse der AWO-Bundeskonferenz sind abrufbar unter: http://buko2012.awo.org/ueber-die-konferenz/beschluesse-und-wahlen/beschluesse