Damit keiner unter Stress aggressiv wird
Die Ambulante Pflege hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Nach den Angaben der Pflegestatistik waren im Dezember 2009 in Deutschland 2,34 Millionen Menschen pflegebedürftig. Von ihnen wurden knapp 70 Prozent zu Hause versorgt. Über eine Million der Pflegebedürftigen wurden alleine durch Angehörige oder weitere Bezugspersonen betreut, bei 555.000 von ihnen erfolgte die Pflege entweder teilweise oder vollständig durch ambulante Pflegedienste.1
Zahlreiche Studien belegen, dass Langzeitpflege zu hohen Belastungen führen kann. Pflegende Angehörige erbringen in der Regel Unterstützungsleistungen von hoher Qualität und in großem Umfang. Zu den Risiken der ambulanten Pflege zählen jedoch auch Misshandlungen alter, pflegebedürftiger Menschen durch Angehörige. In der Literatur geht man von verschiedenen Formen der Gewalt gegenüber alten Menschen aus, beispielsweise von körperlicher und psychischer Misshandlung, sexualisierter Gewalt, finanzieller Übervorteilung sowie Vernachlässigung.2
Einheitliche Statistiken zu Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen speziell in familiären Pflegesituationen liegen jedoch kaum vor. Bei Pflegebedürftigkeit erschweren erhebliche Barrieren den Zugang zur Zielgruppe. Insbesondere schwerstpflegebedürftige und demenziell erkrankte Menschen können oftmals nur unzulänglich erreicht werden. Eine vergleichsweise große Stichprobe umfasst die Leander-Studie3: Bei einer Befragung von 888 pflegenden Angehörigen gaben 20,9 Prozent der befragten Angehörigen an, gegenüber ihrem Pflegebedürftigen oft oder sehr oft "lauter zu werden", und 2,5 Prozent berichteten von häufigen Drohungen und Einschüchterungen.4
Auch Görgen und sein Team berichten ein hohes Maß an psychischer Gewalt in Pflegesituationen: In einer Befragung von 254 Angehörigen betrug das Vorkommen, bezogen auf die letzten zwölf Monate, 47,6 Prozent in der Kategorie "psychische Gewalt". Als problematische Verhaltensweisen waren "Anschreien" (bei 35,3 Prozent aller Befragten) und "Beschimpfen" (30,2 Prozent) am weitesten verbreitet. Physische Misshandlungen gaben 19,4 Prozent der pflegenden Angehörigen an.5
Belastungssituation erhöht das Gewaltrisiko
Stresstheoretisch ausgehend vom sogenannten Belastungsparadigma, stellt chronische Überlastung einen Hauptrisikofaktor für Aggression und Gewalt pflegender Angehöriger gegenüber Pflegebedürftigen dar. Die Bewältigung der Situation kann durch gegenseitige Abhängigkeiten, problematische Beziehungsgeschichten der Familienmitglieder und durch physische und psychische Einschränkungen der Pflegenden erschwert werden.
Auch die Pflege demenziell erkrankter Menschen, verbunden mit einem Mangel an Kooperationsbereitschaft aufseiten des Menschen mit Demenz, kann zu gewaltnahem Handeln beitragen. Insbesondere beim Vorliegen von Mehrfachanforderungen und einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung können familiäre Betreuungsreserven erschöpft werden.6
Ein Fragebogen erfasst die Angehörigenbelastung
In Deutschland bislang selten sind ge-zielte Maßnahmen der Prävention und Intervention hinsichtlich Gewalt und Misshandlung in der familialen Pflege. Das Praxisforschungs-Projekt Purfam (Leitung: Susanne Zank, Universität Köln, und Claudia Schacke, Kath. Hochschule für Sozialwesen Berlin)7 hat eine Präventionsmaßnahme für ambulante Pflegedienste, die direkten Kontakt zum Personenkreis der pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen haben, entwickelt.8
Hierfür wurden im Projekt internationale Forschungsergebnisse und Best Practice ausgewertet. Weiterhin hat Purfam Experteninterviews mit 22 deutschen Expert(inn)en aus Forschung und Praxis sowie einen Workshop mit internationalen Expert(inn)en durchgeführt. Darauf aufbauend wurde ein spezielles Assessment für ambulante Pflegedienste zur Früherkennung entwickelt. Es besteht aus einem Fragebogen zur Angehörigenbelastung9 und zwei Checklisten ("Pflegekraft" und "Team") zur Gewalterfassung, welche in ambulanten Pflegediensten als zusätzliche, qualitätssichernde Maßnahme verwendet werden können.
Purfam hat bundesweit 455 Mitarbeitende von 170 ambulanten Pflegediensten geschult und die Präventionsmaßnahme wissenschaftlich evaluiert. Die Schulung umfasste neben der Einführung des Assessments theoretische Hintergründe zum Thema Gewalt und rechtliche Aspekte. Zielgruppenspezifische Interventionsmaßnahmen zur Ressourcenstärkung in der Angehörigenpflege waren weitere Inhalte.
Der Fragebogen zur Angehörigenbelastung wurde in der oben genannten Leander-Studie entwickelt.10 Mit ihm kann das individuelle Belastungserleben pflegender Angehöriger erfasst werden, so dass der persönliche Entlastungs- und Unterstützungsbedarf deutlich wird. Beispielfragen lauten: Haben Sie das Gefühl,
- dass andere Menschen zu wenig Verständnis für Ihre Situation aufbringen?
- dass Sie mit Behörden und Institutionen zu kämpfen haben?
- dass Sie sich zu wenig um Ihre Gesundheit kümmern können?
Es handelt sich hierbei um Bereiche, die in besonderer Weise Bezug auf das psychosoziale Wohlbefinden des pflegenden Angehörigen nehmen und somit Risiken für die familiäre Pflegesituation frühzeitig abbilden.
Checklisten erleichtern die Prävention
Der zweite Teil zur Früherfassung problematischer Pflegesituationen besteht aus den Instrumenten "Purfam-Checkliste: Pflegekraft" und "Purfam-Checkliste: Team". Diese berücksichtigen zentrale Formen von Gewalt wie körperliche und psychische Misshandlung, sexualisierte Gewalt, finanzielle Übervorteilung und Vernachlässigung. Weiterhin werden unangemessene freiheitsentziehende Maßnahmen einbezogen. Die beiden Checklisten ermöglichen eine Zweiteilung des Verfahrens: Die Checkliste für die Pflegekraft schärft die Wahrnehmung von kritischen Bereichen innerhalb der Pflegesituation anhand konkreter Anzeichen und die Checkliste für das Team unterstützt die Durchführung einer Fallbesprechung auf der Grundlage der erhobenen Informationen. Zusätzlich zur Beurteilung der Situation erfolgt die Maßnahmenplanung bei manifester Gewalt oder zur Reduzierung des vorhandenen Risikos.11
Umgang mit Gewaltphänomenen
Gewaltgeprägtes Handeln in der Familienpflege erfolgt oftmals ohne Schädigungsabsicht. Vielmehr ist es oft versäumt worden, Hilfen von außen in Anspruch zu nehmen. Betroffene Familien benötigen daher zugehende Hilfen zur konstruktiven Bewältigung ihrer Problemlage. Interventionsmaßnahmen wie Beratung und Entlastung müssen passgenau die individuellen Bedarfe berücksichtigen. Dabei sollte die Beschäftigung mit dem Thema Gewalt in der familiären Pflege nicht zu einem Generalverdacht gegenüber pflegenden Angehörigen führen. Andererseits darf Misshandlung und Vernachlässigung pflegebedürftiger Menschen nicht tabuisiert werden.12
Darüber hinaus haben die Mitarbeiter ambulanter Pflegedienste den Pflegebedürftigen gegenüber eine Garantenstellung: Sie sind in besonderem Maße für das Wohlergehen dieser verletzlichen Zielgruppe verantwortlich. Das Purfam-Assessment unterstützt Pflegekräfte bei der Ausübung ihrer Garantenpflicht, so lauten die Rückmeldungen aus den Pflegediensten. Insbesondere das mehrstufige Verfahren und die problemlose Integration in den Praxisalltag werden hervorgehoben.
Anmerkungen
1. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Pflegestatistik 2009. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. Wiesbaden : Statistisches Bundesamt, 2011.
2. Zank, Susanne; Schacke, Claudia; Philipp-Metzen, H. Elisabeth: Zwischenbericht - Projekt "Potenziale und Risiken in der familialen Pflege alter Menschen". Unveröff. Zwischenbericht. Berlin : Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2011.
3. "Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger von demenziell Erkrankten".
4. Zank, Susanne; Schacke, Claudia et al.: Prädiktoren der Veränderung von Belastungen pflegender Angehöriger : Längsschnittliche Befunde der LEANDER-Studie. In: Klie, Thomas; Buhl, Anke et al. (Hrsg.): Die Zukunft der gesundheitlichen, sozialen und pflegerischen Versorgung älterer Menschen. Frankfurt a.M.: Mabuse-Verlag, 2005, S. 72-81.
5. Görgen, Thomas; Herbst, Sandra et al.: Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben älterer Menschen. 2012. Download unter: www.bmfsfj.de, Suchwort: "Gewalterfahrungen Älterer".
6. Philipp-Metzen, H. Elisabeth; Schacke, Claudia; Zank, Susanne: Gewalt in der häuslichen Pflege. Lösungsansätze des Projekts PURFAM. In: Pro Alter - Kuratorium Deutsche Altershilfe Heft 2/2012, S. 58-62.
7. PURFAM: Potenziale und Risiken in der familialen Pflege alter Menschen.
8. Das Manual zum Purfam-Präventionskonzept ist im Frühjahr 2013 erschienen: Bonillo, Marion; Heidenblut, Sonja; Philipp-Metzen, H. Elisabeth; Saxl, Susanna; Schacke, Claudia; Steinhusen, Constanze; Wilhelm, Inka; Zank, Susanne: Gewalt in der familialen Pflege. Prävention, Früherkennung, Intervention - ein Manual für die ambulante Pflege. Stuttgart : Kohlhammer.
9. Download: www.hf.uni-koeln.de/data/gerontologie/File/03._BIZA-D-PV_PURFAM.pdf
10. Siehe Fußnote 4.
11. Siehe Fußnote 2.
12. Siehe Fußnote 6.