Allein gestrandet, aber nicht verlassen
Die Mädchen und Jungen zwischen acht und 17 Jahren – überwiegend aus afrikanischen und asiatischen Ländern – werden in den ersten Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland in den Clearinggruppen der Caritas Gießen aufgenommen und rund um die Uhr betreut. Sie werden medizinisch versorgt, psychosozial betreut, sie erhalten eine materielle Grundversorgung und werden bei Behördengängen unterstützt. Außerdem begleiten die Caritasmitarbeiter(innen) die Jugendlichen pädagogisch im Asylverfahren, organisieren Deutschunterricht und auch freizeitpädagogische Angebote.
Gesetzliche Grundlage für das Clearingverfahren sind das SGB VIII (§§ 27, 34, 36, 41, 42) und der hessische Clearingerlass. Das SGB VIII sichert den unbegleiteten Flüchtlingen den identischen Anspruch auf die Leistungen der Jugendhilfe.
Begonnen hat die Caritas Gießen im Jahr 2004 mit einer Clearinggruppe für acht unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Mittlerweile bestehen fünf Wohngruppen im Stadtgebiet Gießen mit insgesamt 48 Plätzen. Dies spiegelt auch die steigende Zahl der unbegleiteten Flüchtlinge aus Krisenregionen der Welt und somit den erhöhten Bedarf an Clearingplätzen in Hessen und in der Stadt Gießen wider.
Die Clearinggruppen dienen als Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlingsjugendliche. Die Sozialpädagog(innen) dort kooperieren eng mit der Clearingstelle des Jugendamts der Stadt und dem hessischen Sozialministerium, welches für die Versorgung der unbegleiteten Jugendlichen in Hessen verantwortlich ist. Mit dem hessischen Clearingerlass war das Sozialministerium bundesweit in einer Vorreiterrolle bei der Standardisierung des Clearingverfahrens.
In den vergangenen neun Jahren, in denen der Caritasverband Gießen die Clearinggruppen vorhält, sind über 700 Jugendliche aus 55 Nationen betreut worden. Die Zahl der afghanischen, somalischen und pakistanischen Jugendlichen ist in dieser Zeit angestiegen. Ein Fünftel der Jugendlichen ist weiblich.
Die jungen Menschen gelangen meist nach langer, beschwerlicher Flucht mit Hilfe von Schleppern, versteckt in Lastwagen oder Containern auf dem Landweg, in überfüllten Flüchtlingsbooten über das Mittelmeer oder mit gefälschten Ausweisdokumenten per Flugzeug in die Bundesrepublik. In der Regel kommen sie in dem mittlerweile einzigen Flüchtlingslager für erwachsene Flüchtlinge in Hessen, der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung (HEAE) in Gießen an. Da sie dort als Minderjährige ohne Begleitung von Personensorgeberechtigten nicht länger untergebracht sein dürfen, informieren die Sozialarbeiter(innen) der HEAE die Clearingstelle des Jugendamtes. Dort wird dann ein Erstgespräch mit dem jungen Menschen geführt. Anschließend wird er oder sie unter der Obhut des Jugendamtes in eine Clearinggruppe der Caritas vermittelt. Manchmal werden die Jugendlichen aber auch von der Polizei bei Ausweiskontrollen aufgegriffen und direkt in eine Clearinggruppe gebracht, wenn das Jugendamt geschlossen ist. Selten kann es passieren, dass die Jugendlichen sich selbst bei den Clearinggruppen melden, da sie von Landsleuten oder den Schleppern erfahren haben, wo ihnen geholfen wird.
Zunächst wird ein Vormund bestellt
Das Clearingverfahren ist laut Clearingerlass innerhalb von acht Wochen nach Inobhutnahme des jungen Menschen abzuschließen. In den ersten Tagen nach der Aufnahme stellt die Clearingstelle des Jugendamtes die Personensorge sicher. Dabei wird in der Regel ein Amtsvormund vorgeschlagen und dieser vom Amtsgericht für den jungen Menschen bestellt. Selten sind Angehörige bereit und imstande, die Vormundschaft zu übernehmen.
Darüber hinaus stellt das Jugendamt den Jugendlichen eine(n) Ergänzungspfleger(in) (Rechtsanwalt) zur Seite, der/die sie bei ihrem Asylverfahren rechtlich berät und begleitet. Seit die Bundesregierung im Jahr 2010 ihre Vorbehalte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurückgenommen hat, bekommen in Gießen alle minderjährigen Flüchtlinge, auch die asylmündigen Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren, einen Rechtsbeistand gestellt.
Nach drei bis vier Wochen führen Mitarbeiter(innen) des Jugendamtes mit dem jungen Menschen ein zweites Gespräch. Gemeinsam wird versucht, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Das Jugendamt geht dabei genauer auf die familiären Verhältnisse in der Heimat und die Fluchtgründe ein. Falls bis dahin Angehörige in der Bundesrepublik aufgetaucht sind, wird der Kontakt geprüft und in der Regel als stabilisierender Faktor mit monatlichen Besuchen befürwortet. Grundlage für die Zweitbefragung ist der Zwischenbericht aus der Clearinggruppe, in den die Verhaltensbeobachtungen der pädagogischen Fachkräfte einfließen, wie beispielsweise der Grad der Selbstständigkeit, das psychosoziale Verhalten, die Integration in der Gruppe oder das Hygieneverhalten. Auch eine schulische Beurteilung der internen Spracherwerbslehrer(innen) wird berücksichtigt.
Die Alterseinschätzung obliegt in zweifelhaften Fällen dem Jugendamt. Dies geschieht in Form einer Inaugenscheinnahme durch zwei Sachbearbeiter(innen). Gravierende Abweichungen zwischen angegebenem Alter und Verhalten kommunizieren die Clearinggruppen dem Jugendamt. In seltenen Fällen hat das Jugendamt für die Alterseinschätzung auch Ärzt(inn)e(n) hinzugezogen.
Wenn das Clearingverfahren abgeschlossen ist, werden die jungen Flüchtlinge vom Jugendamt in geeignete Jugendhilfeeinrichtungen innerhalb Hessens verlegt. Dabei hat das Jugendamt die Quotenregelung für die Verteilung der Flüchtlingsjugendlichen auf die hessischen Kommunen zu berücksichtigen. Auch die Nähe zu Familienangehörigen kann ein Kriterium für die Ortsauswahl sein. Jugendliche, die noch nicht volljährig sind und weiteren Hilfebedarf haben, können beim Jugendamt einen Antrag zur Fortsetzung der Jugendhilfe stellen.
Die Jugendlichen fliehen vor Folter oder Zwangsheirat
Die Jugendlichen flüchten aus unterschiedlichen Gründen: politische, religiöse, ethnische Verfolgung; Kriege, Folter, Elternverlust; Zerstörung der Existenzgrundlage; Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten; Vergewaltigung, Zwangsheirat, Zwangsprostitution, Genitalverstümmelung oder schwere Erkrankungen.
In der Heimat oder auf der Flucht können sie schwere bis traumatisierende Ereignisse durchlebt haben. Je nach Resilienzfaktoren werden diese Erlebnisse unterschiedlich bewältigt, was sich schon in der Clearingphase im Verhalten zeigen kann. Häufig ist somatisierendes Verhalten wie Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Alpträume, Flashbacks, gelegentlich auch aggressives, selbst- und fremdgefährdendes Verhalten zu beobachten. Die pädagogischen Fachkräfte begleiten die Jugendlichen durch diese Krisen, stabilisieren sie und vermitteln ihnen Sicherheit. Extrem belastend ist in dieser Phase der unsichere Aufenthaltsstatus und das lang andauernde Asylverfahren. Häufig werden die Jugendlichen zur Krisenintervention zu geeigneten Fachstellen und Therapeut(inn)en weitervermittelt. Notwendige Behandlungen werden erst in den Folgeeinrichtungen begonnen, um keinen Bruch in der Therapie zu verursachen. Zudem haben die Flüchtlinge bis dahin in der Regel die deutsche Sprache als Kommunikationsmedium erlernt, was auch für das therapeutische Setting von Vorteil ist.
Die freizeitpädagogischen Angebote der Clearinggruppe können die Jugendlichen ein wenig von ihren Sorgen und Ängsten, ihrem Heimweh fern ihrer Familien und von den schweren bis traumatisierenden Erlebnissen im Herkunftsland oder auf der Flucht ablenken und stärken zudem den Gruppenzusammenhalt. Auf dem Programm stehen unter anderem Fußball, Schwimmkurse, kunstpädagogische Projekte, Trommeln, Ausflüge oder Museums- und Kinobesuche. Die Jugendlichen können in der Kunst oder der Musik Ausdrucksformen für das Erlebte finden, sich sportlich betätigen oder bei den Ausflügen die Region kennenlernen.
Unterschiedliche Kulturen werden berücksichtigt
Neben den christlichen Festen werden unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Religionen und Kulturen weitere Feste gefeiert, wie Nouruz (Neujahrs-/Frühlingsfest in Zentralasien, im Nahen Osten, im Kaukasus, auf dem Balkan und in der Schwarzmeerregion) und Id-al-Fitr, das Zuckerfest (Fastenbrechenfest am Ende des Ramadan).
Die Solidarität mit und die Anwaltschaft für diese jungen Menschen in Not und in der besonderen Lebenslage auf der Flucht als unbegleitete Flüchtlinge und die Akzeptanz der Herkunft, Kultur und Religion, aber auch die Vermittlung der hiesigen Kultur und Gebräuche prägen das Handeln der Caritas-Mitarbeiter(innen). Fachlichkeit, interkulturelle Kompetenz, Offenheit, Akzeptanz, Toleranz, Neugier, Belastbarkeit, Empathie, professionelles und adäquates Maß an Nähe und Distanz in Beziehungsangeboten sind in der Arbeit mit den jungen Menschen unabdingbar.
Die Flüchtlingsjugendlichen werden entsprechend ihren Ressourcen gefördert. Häufig verfügen sie über eine hohe Sozialkompetenz, sind lernwillig, ehrgeizig und hilfsbereit. Sie bereichern das Zusammenleben durch kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt. Bei einer guten Integration und schulischen und beruflichen Qualifikation können sie mögliche künftige Fachkräfte in Deutschland sein. Die Integration der Jugendlichen startet bereits in der Clearingphase und ebnet den Weg für ihre weitere Perspektive in unserer Gesellschaft.