„Der Umgang mit unserem Kind ist entspannter“
Mit dem Forschungs- und Praxisprojekt "Bewegung im Fluss" (2009-2012) wurde ein neuer Ansatz in der Arbeit mit Familien in Dortmund entwickelt, erprobt und evaluiert.
Neu ist, dass die Familie und gemeinsame Erlebnisse über Bewegung im Vordergrund stehen und nicht die Bearbeitung von Problemen und Konflikten wie in bisherigen Förder- und Therapieansätzen für Familien. An diesem präventiven Angebot konnten alle an Bewegung interessierten Familien teilnehmen, ohne einen speziellen Förderauftrag vorweisen zu müssen. Der inklusive Gedanke bildete demnach die Grundlage: Alle Familienmitglieder waren so willkommen, wie sie sind.
Ziele von "Bewegung im Fluss"
Nahziel des Projektes war es, Familien mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren zu begleiten und Formen positiver Interaktion zu initiieren. Die Familienmitglieder erlebten sich über das Medium Bewegung und entwickelten ein Bewusstsein über die eigenen Stärken und die der anderen. Der Familienzusammenhalt und somit langfristig die Lebensqualität beziehungsweise Gesundheit sollten gestärkt werden. Ziel des Projektes war es ferner, die Effekte eines solchen Angebotes zu überprüfen. Die Projektteilnehmer zeichneten sich durch Vielfältigkeit aus: Interessierte Familien aus Dortmund und Umgebung kamen ebenso in das Psychomotorische Förderzentrum "FluVium" wie Familien, die pädagogisch-therapeutisch durch das St. Vincenz Jugendhilfe-Zentrum in Dortmund betreut wurden.
Das Konzept in der Praxis
Die Familien trafen sich in Kleingruppen (maximal zwölf Personen) zu wöchentlich stattfindenden 60-minütigen Bewegungsstunden. In einem Zeitraum von sechs Monaten fanden insgesamt 20 Familienstunden statt, die thematisch in drei Module gegliedert waren. Zwei Pädagoginnen begleiteten die Gruppen psychomotorisch.
Thema 1: Bewegungsfreude entwickeln
In den ersten fünf Bewegungsstunden wurden Bewegungsanlässe für die Familien initiiert, in denen die Anbahnung der Ich-Kompetenz im Vordergrund stand. Wie kann ich mich bewegen? Was kann ich alles schon oder auch nicht mehr? Verschiedene Laufspiele zum Aufwärmen und Suchspiele zur Raumerkundung boten dazu Möglichkeiten.
Thema 2: Kommunikation/Interaktion
In den folgenden sieben Einheiten kamen sich die Teilnehmer(innen) etwas näher. So hatten sie zum Beispiel die Aufgabe, mit Wäscheklammern gemeinsam ein Fabeltier zu bauen, sich dafür einen Namen auszudenken und das Tier mit seinen besonderen Eigenschaften den anderen Familien vorzustellen. Hier wurden die Gruppenmitglieder ein Team, interagierten miteinander. Neben der Kommunikation wurde zusätzlich die Materialkompetenz der Teilnehmer erweitert, die Kreativität und Phantasie geweckt und es wurden Berührungsängste abgebaut. Der Einsatz von Alltagsmaterialien ermöglichte es den Familien, einfache Spiele und auch Rituale, die sie im Laufe des Projektes kennengelernt haben, in ihren Familienalltag zu übernehmen.
Thema 3: Vertrauen aufbauen und stabilisieren
In den letzten acht Familienstunden erlebten sich die Familien im direkten Körperkontakt etwa bei der "Mausefalle", in der ein Partner als Maus versucht, den Fängen des anderen (der Katze) zu entkommen. Eltern und Kindern wurde die Möglichkeit geboten, (sich) zusammen zu raufen und sich spielerisch in kleinen Kämpfen zu zweit auf einer Bodenmatte zu begegnen. Vor allem dieses Rangeln und Raufen hat großes Interesse bei den Erwachsenen und Kindern geweckt und gezeigt, dass das Urbedürfnis nach Nähe und körperlicher Auseinandersetzung einen wichtigen Stellenwert einnimmt.1 Es wurden vorrangig Spiele und Aufgaben zum Thema Sozialkompetenz angeboten.
Die Bewegungsstunden haben einen ritualisierten Ablauf. Sie sind in vier Phasen aufgebaut:
1. Begrüßung: kurze Erzählrunde und Aufwärmspiel, circa zehn Minuten;
2. Gruppenzeit: Bewegungs- und Teamspiel, circa 20 Minuten;
3. Forscherzeit: freie Exploration, circa 15 Minuten;
4. Abschluss: Entspannung und Erzählrunde mit Wünschen, circa 15 Minuten.
Die Einhaltung der Rituale vor allem zu Anfang und Ende einer jeden Stunde ist besonders wichtig, um den Familien klare und vorhersehbare Strukturen und damit Halt zu geben.
Wissenschaftliche Studie
Die Kontrollgruppenstudie "Empirische Studie zur Entwicklung von Interaktions- und Lebensqualität von Familien in besonderen Lebenslagen" evaluierte die Praxis in drei Phasen: Vorbereitung, Erhebung und Auswertung. Die Stichprobe setzte sich aus Eltern-Kind-Dyaden der Interventionsgruppe mit n=42 und Dyaden der Kontrollgruppe mit n=42 zusammen. Die Dyaden nahmen an einer Förderdiagnostik zu drei Zeitpunkten (T1, T2 und T3) teil. Während die Interventionsgruppe zwischen T1 und T2 an 20 Bewegungseinheiten teilnahm, erhielt die Kontrollgruppe kein familienorientiertes Bewegungsangebot (s. Abbildung).
Folgende zentrale Bereiche wurden hypothetisch jeweils aus Sicht der Eltern und Kinder auf ihren Zusammenhang mit familienorientierter Bewegungsförderung untersucht: Interaktionsstil, Näheverhalten, Lebensqualität sowie Familiengefüge. Dazu wurden förderdiagnostisch zwei Bewegungsaufgaben zu den Themen Kooperation und Vertrauen (Auswertung per Videoanalyse), ein Familiensystemtest und vier Fragebögen zu den Themen Lebenszufriedenheit und persönliche Angaben der Eltern sowie Temperament und Lebensqualität des Kindes eingesetzt. Wissenschaftlich begleiteten das Projekt Gerd Hölter sowie Anke Lengning, beides Professoren an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Die Aktion Mensch fördert das Vorhaben finanziell.
Erste positive Ergebnisse zeigten sich in der T2-Erhebung zur Gesundheit und Lebensqualität der Eltern (Selbstaussage), in dem Selbstwert der Kinder (Aussage der Eltern) und der Familienrepräsentation des Kindes (Selbstaussage).
Rückmeldungen der Familien und Erfahrungen
In dem Projektzeitraum nahmen 124 Familien mit insgesamt 387 Personen an psychomotorischen Familienangeboten teil - das Interesse und der Zulauf waren sehr groß, die Rückmeldungen der Teilnehmer positiv.
In einem Fragebogen zur Zufriedenheit nach der Intervention gaben 17 von 17 Befragten an, dass sie sich in den wöchentlichen Stunden wohlgefühlt haben, weil (Auszug) "die Atmosphäre angenehm war und ich Stress abbauen konnte"; "die Kinder Spaß hatten und die ganze Familie eingebunden wurde".
Welche Veränderungen hat das Projekt gebracht? Auszug: "Wir, meine Tochter und ich, haben unseren Kontakt zueinander verbessert"; "Der Umgang mit dem Kind ist entspannter. Wir freuen uns mehr als Familie." Viele der Familien äußerten den Wunsch, auch nach Ende der Interventionseinheiten weiterhin zu den Familienstunden zu kommen.
Auch die Fachpersonen aus den Tageseinrichtungen für Kinder und andere angrenzende Hilfesysteme wie Familienberatungsstellen befürworteten die Inhalte des Projektes.
Zu verzeichnen ist eine erhöhte Abbrecherquote (Drop-out) bei Familien mit besonders hohen Belastungen und in besonders schwierigen Lebenssituationen. Um ein nachhaltiges Angebot auch für diese Familien bieten zu können, wurde die Projektidee "Bewegte Eltern - Bewegte Kinder" entwickelt.2 Im St. Vincenz Jugendhilfe-Zentrum wurden psychomotorische Familiengruppen fest in die Angebotsstruktur aufgenommen.
Seit Ende 2012 wird dieses familienorientierte Bewegungsangebot auch in Tageseinrichtungen für Kinder, Familienzentren, Schulen, Vereinen und für Privatpersonen vor Ort durchgeführt.
Ein für Erwachsenengruppen abgewandeltes Angebot richtet sich an Paare sowie Teams aus Einrichtungen und Firmen, die Interesse haben, Stress abzubauen und über Bewegung gemeinsam Interaktionsprozesse zu erleben und zu reflektieren.
Die "Bewegte Familienzeit" wird von den Adressaten angenommen und es besteht eine hohe Nachfrage auch in anderen Einrichtungen.
Bewegte Familienzeit ist Prävention
Die politische Diskussion rückt den Bereich Prävention in den Fokus: Es gibt viele Beratungsangebote oder Eltern-Kind-Kurse. In Ergänzung dazu versteht sich "Bewegte Familienzeit" als präventives Angebot, in dem Bewegung vorrangig als Medium zur Förderung der Interaktions- und Lebensqualität für Familien mit drei- bis sechsjährigen Kindern angesehen wird.
Die begleitende Kontrollgruppenstudie von "Bewegung im Fluss" hat gezeigt, dass eine solche Familienförderung in den Bereichen Gesundheit, Lebensqualität, Selbstwert und Familiengefüge bei den Teilnehmern zu Veränderungen führt. Das eigens zusammengestellte Familienprogramm wird als Leitfaden ausführlich beschrieben und Mitte 2013 als Dissertation an der TU Dortmund veröffentlicht sowie in Einrichtungen vor Ort angeboten. Erwachsenengruppen sprechen Paare und Kollegien/Teams an.3
Anmerkungen
1. Beudels, W.; Anders, W.: Wo rohe Kräfte sinnvoll walten. Handbuch zum Ringen, Rangeln und Raufen in Pädagogik und Therapie. Dortmund : Modernes Lernen, 2008.
2. Reppenhorst, S.; Schäfer, C.: Bewegte Familienzeit. Das Praxis- und Forschungsprojekt "Bewegung im Fluss" zur präventiven Förderung von Familien. Motorik 35 (1/2012), S. 2-14.
3. Teile dieses Artikels wurden in der Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie, 35 (2012), Heft 1 in "Bewegte Familienzeit. Das Praxis- und Forschungsprojekt Bewegung im Fluss zur präventiven Förderung von Familien" von Reppenhorst & Schäfer veröffentlicht.