Wer ist ,Wir‘ in der Einwanderungsgesellschaft?
Bei den aktuellen Diskussionen dominiert insbesondere der Streit zwischen denen, die mit kultureller Vielfalt den Zerfall einer verloren gegangenen und unbedingt wiederherzustellenden nationalen Homogenität verbinden, und denen, die Vielfalt als die einzige Chance zukünftiger moderner Gesellschaften begreifen. Vor allem geht es dabei um Fragen der gesellschaftlichen Identität: Wer gehört zu Deutschland? Was bedeutet es, deutsch zu sein? Wie viel kulturelle Vielfalt verträgt der gesellschaftliche Zusammenhalt? Sowohl die inhaltlichen Debatten über diese Fragen als auch die Art und Weise, wie die Debatten geführt werden, prägen das gesellschaftliche Selbstverständnis.
Der Wille dazuzugehören
Schon früh stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit.DCV/KNA
"Wir finden, dass es sich verdammt gut lebt in diesem Land, von dem wir nicht wissen, wie wir es nennen sollen: Heimat? Zuhause? Fremde? Unser Deutschland - oder doch: euer Deutschland?" So lauten die ersten Sätze des Buches "Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen". Die Autorinnen - Alice Bota, Khuê Pham und Özlem Topçu - erzählen von einem Lebensgefühl jenseits eindeutiger Zugehörigkeiten: dem der "neuen Deutschen". Alle drei stammen aus Einwandererfamilien, haben studiert und arbeiten als Redakteurinnen bei der "Zeit". Eigentlich haben sie es geschafft, in dieser Gesellschaft anzukommen. Und trotzdem ringen sie darum, dazuzugehören, sehnen sich danach, zum "Wir" zu gehören und heimisch zu werden. "Wir fühlen, dass wir nicht Teil des Ganzen sind", so die Autorinnen. "Wir kommen uns manchmal vor wie Hochstapler, wenn wir versuchen, unsere deutschen Leben zu führen." Was ist da passiert, fragte ich mich, als ich diese Zeilen las und ich - ebenfalls Kind von "Gastarbeiter"-Eltern, Abitur gemacht, Ethnologie und Germanistik studiert und beruflich einigermaßen erfolgreich - an meine eigene Situation denken musste? Fühle ich mich auch als Hochstaplerin? Ging oder geht es mir ähnlich? Bilder und Fragen taten sich auf: Wäre ich als Italienerin in Italien jemals auf die Idee gekommen, eine Tarantella-Gruppe mit meinen italienischen Freunden zu gründen und mit der Gruppe durch die ganze Region zu touren? Wenn ich an meine Cousinen in Italien denke, wohl kaum! Wäre ich, wenn ich in Italien aufgewachsen wäre, zu einer "Italienexpertin" geworden? Habe ich mich vielleicht doch nicht aus Eigeninteresse mit Italien so stark beschäftigt und mich auf dem Laufenden gehalten, sondern vielmehr, um die vielen tagesaktuellen, geschichtlichen, politischen, filmischen Fragen zu Italien von Schulkamerad(inn)en, Lehrer(inne)n, von Studien- und Berufskolleg(inn)en, vom Freundeskreis beantworten zu können, die, sobald das Stichwort Italien fiel, automatisch an mich gerichtet wurden? Wurde ich zur "Italienerin" gemacht?
Die "Andere"
Die Frage, ob ich hierher gehöre, habe ich mir eigentlich nie bewusst gestellt. Ich war hier und ich wusste, ich werde hier bleiben - wenn Italien, dann für Urlaub, Auslandssemester oder kurzfristige (berufliche) Aufenthalte. Aber in jeder neuen Lebensphase wurde und werde ich gefragt, ob ich "zurückkehre". "Zurück, wohin?", frage ich. "Nach Italien, natürlich" ist die Antwort. Ja, natürlich, denke ich weiter, wurde ich oft als die "Andere" gesehen, die die ersten acht Lebensjahre in einem anderen Land aufgewachsen ist, eine andere Muttersprache hat. Aber ich gehörte doch dazu, ich gehörte doch auch zum "Wir". Ich wurde nicht diskriminiert - wenn, dann eher positiv, schließlich liebten die Deutschen seit den 70er-Jahren Italien, das Dolce Vita und die italienische Küche. Aus diesem Grunde kamen meine Freunde auch am liebsten zu Essenszeiten zu uns, da meine "mamma" ja so gut kochen konnte! Oder gehörte ich doch nicht zum "Wir", sondern war ich das "Ihr", das den Vorstellungen und Erwartungen des "Wir" eher entsprach? Schließlich muss ich doch zugeben, dass das "Italienisch-Sein" zumindest in meiner Schulzeit permanent da war, oft alles andere überwog und mich und mein Lebensgefühl wohl ausschlaggebend prägte.
Aber eigentlich fühle ich mich als Teil des Ganzen - zumindest meistens. Nur manchmal, wenn ich neue Leute kennenlerne oder "Italienbegeisterten" begegne, werde ich wieder die Andere, die Besondere, die Italienexpertin, das Exotische... Und die Gesprächsthemen fokussieren und verengen sich und verarmen. Diese Augenblicke, etwas Besonderes, Anderes zu sein, sammelten sich über die Jahre und ließen wohl doch unmerklich ein Gefühl der Entfremdung und des "Nichtdazugehörens" entstehen. Und vielleicht waren es genau diese Augenblicke, die mich heute daran hindern, beim Fußball nicht mit dem Gefühl für die deutsche Mannschaft zu sein, sondern nur mit dem Verstand.
"Der Flüchtling in mir wuchs immer rascher"
Auch Flüchtlinge wollen als Teil des Ganzen gesehen werden.Birgit Betzelt
Eine zugespitzte Parallele fand ich beim syrischen Schriftsteller Chadar Al-Agha, der in bedrückender Weise seine Situation beschrieben hat: "Der Flüchtling in mir wuchs immer rascher, bis er zu einem Riesen wurde und mich wie ein Monster verschlang, es verschlang mich total, sodass ich mich selbst nicht mehr sah und die anderen mich nicht mehr sahen. Ich war nichts als ein Flüchtling."
Versuchen wir doch einen Perspektivenwechsel und uns zu sensibilisieren, darauf zu achten, ob das "Wir", das wir anwenden, den anderen dazu eher animiert, sich ausgeschlossen oder als Teil des Ganzen zu fühlen. Und zu lernen, den Menschen, denen wir begegnen, nicht nur die Möglichkeit zu geben, die Italiener, die Türken, die Syrer, die Deutschen zu sein, sondern auch unsere Vereinsmitglieder, unsere Nachbar(inne)n, unsere Kolleg(inn)en, unsere Opelianer, unsere Eintrachtfans, unsere Kumpels und Zugehörige dieses Landes.
Der Artikel erschien im Original in der Beilage der neuen caritas "Migration und Integration Info", Ausgabe 3/2018: Wer ist ‚Wir‘ in der Einwanderungsgesellschaft.