Gelebte Solidarität
Wie stark können Menschen Organisationen prägen? Immer wieder gibt es Personen, die sich auch gegen Widerstände für ihre Ideen einsetzen und andere begeistern. Im Jahr 2021 stehen zwei solche Persönlichkeiten des Deutschen Caritasverbandes (DCV) im Mittelpunkt, die beweisen, dass Visionen und Engagement lange nachwirken: Am 10. April 2021 jährt sich der 100. Todestag von Lorenz Werthmann, dem Gründer des DCV, und am 7. Juli 2021 der 100. Geburtstag des langjährigen Präsidenten Georg Hüssler. Beide haben in der Caritasgeschichte wichtige Akzente im Sinne der Solidarität gesetzt.
Eine Gründerfigur, die aneckt
Die Gründung des DCV hat stark mit den sozialen Problemen des 19. Jahrhunderts zu tun: Vielerorts entstanden caritative Initiativen, Vereine und Orden. Inspiriert von der Gründung des "Centralausschuß[es] für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche" im Jahr 1848, aber auch durch die politischen, theologischen und kirchlichen Debatten seiner Zeit entwickelte Werthmann die Idee eines Sozialverbandes. Dieser sollte nicht nur die katholische soziale Arbeit bündeln, er sollte sie politisch wirksam machen. Ende des 19. Jahrhunderts verwendete er das Bild der Caritas als "Dampf in der sozialen Maschine"1. Der 1897 gegründete Verband, so Werthmanns Vorstellung, sollte sich sozialpolitisch engagieren, an politischen Lösungen mitarbeiten und Gesetzesvorschläge machen. Die caritativ Tätigen, so Werthmann, "dringen hinein in die Not, wohin die staatliche Gesetzgebung noch nicht dringen kann, machen auf sittliche und materielle Notstände aufmerksam, schaffen das Material zur wirksamen Bekämpfung derselben; sie ebnen so die Pfade und Wege für neue gesetzgeberische Maßnahmen."2
Prägend für sein Wirken war die Idee, angesichts der sozialen Not in Deutschland zu helfen und Strukturen nachhaltig zu verändern. Diese Solidarität galt punktuell aber auch für die Not von Menschen außerhalb Deutschlands, etwa wenn Werthmann auf dem Katholikentag 1896 zu Spenden für die verfolgten christlichen Armenier aufrief. Dass er dennoch ein Kind seiner Zeit und auch sein Solidaritätsverständnis vor blinden Flecken nicht gefeit war, zeigen Reden, die aus heutiger Sicht irritierend wirken. Hierzu gehört die Unterstützung kolonialer Bestrebungen, die er mit dem Missionsgedanken verband, etwa wenn er in einer Ansprache kurz nach Kriegsbeginn am 27. September 1914 dazu aufrief, "den mit den Kolonien neu erworbenen Untertanen die Segnungen des Christentums zu bringen"3 oder feststellte: "Eine […] Aufgabe ist das jetzt von den Feinden bedrängte, aber hoffentlich im Sieg vergrößerte deutsche Kolonialreich, wieder auf- und auszubauen […]."4
Aber Lorenz Werthmann war trotzdem kein Anhänger eines blinden Nationalismus, wie sein Wirken eindrucksvoll zeigt: Er hat den sozialen Sektor in Deutschland im Sinne der katholischen Soziallehre nachhaltig mitgeprägt. Insofern bleibt sein caritatives Engagement ein Beispiel dafür, dass es strategisches Verständnis und organisatorisches Geschick braucht, um nachhaltig etwas bewirken zu können.
Wenn Solidarität international wird
In diesem Sinn ist auch das Lebenswerk Georg Hüsslers zu verstehen, der von 1969 bis 1991 Präsident des DCV und von 1975 bis 1983 Präsident von Caritas Internationalis war, dem weltweiten Netzwerk der Caritas. Mit seinem Engagement steht er für ein grenzüberschreitendes Verständnis von Solidarität und caritativer Arbeit. Auch wenn er nicht die ersten internationalen Hilfsaktionen verantwortet hat, verbindet sich mit seiner Person die Etablierung der internationalen Arbeit, wie sie heute bei Caritas international (Ci), dem Hilfswerk des DCV, geleistet wird. Als Generalsekretär verantwortete er das Engagement des DCV im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitskrieg Algeriens Anfang der 1960er-Jahre. In seinen Berichten wird deutlich, wie wichtig ihm das bis heute gültige Partnerprinzip in der internationalen Zusammenarbeit war.5 So unterstützte er den Aufbau von Caritas-Organisationen in dem entstehenden nordafrikanischen Staat. Neben weiteren Projekten sticht sein Engagement in Vietnam heraus, bei dem es im Rahmen einer Reise zu einem Treffen mit dem damaligen vietnamesischen Präsidenten Ho Chi Minh kam.
Eine spektakuläre ökumenische Aktion
In besonderer Erinnerung bleibt sein Wirken im Kontext des Biafrakonfliktes. Im Laufe des Krieges hatte die Zentralregierung Nigerias die Menschen in der Region Biafra von der Außenwelt abgeschnitten. Die Versorgung aus der Luft war die einzige Möglichkeit, dort zu helfen. Die Luftbrücke der Kirchen im Rahmen der "Joint Church Aid" war eine spektakuläre ökumenische Aktion, an der sich der DCV beteiligte.
Sie war nicht die erste Hilfsaktion und eine, zu der der DCV anfangs schon fast gedrängt werden musste,6 aber sie war sicherlich eine der herausforderndsten und damit prägendsten. Aufgerüttelt durch das Leid der Menschen engagierte sich Hüssler wie viele andere, um Menschenleben zu retten, auch dann, wenn es nicht den Regeln der internationalen Luftfahrt oder dem Völkerrecht entsprach. So wurden Dilemmata deutlich, die die humanitäre Hilfe bis heute beschäftigen: War das Handeln neutral? Hat man Leid verhindert oder den Krieg durch Hilfe verlängert und damit neues Leid geschaffen?
Beide Präsidenten prägten den Deutschen Caritasverband entscheidend mit, indem sie Strukturen geschaffen, Hilfe organisiert und Solidarität im Geiste des Evangeliums und der darauf aufbauenden katholischen Soziallehre gelebt haben. Diese Impulse sollen im Jahr 2021 in unterschiedlichen Veranstaltungen aufgegriffen und weitergedacht werden.
Anmerkungen
1. Borgmann, K. (Hrsg.): Lorenz Werthmann. Reden und Schriften. Freiburg i. Br.: Lambertus, 1958, S. 69.
2. Ebd., S. 70.
3. Werthmann, L.: Ernst und Größe der gegenwärtigen Weltstunde, in: Reden. Gehalten von den Herren: Oberbürgermeister a. D.Dr. Winterer, Prälat Dr. Werthmann und Stadtpfarrer Schwarz in der Vaterländischen Versammlung am 27. September 1914 im Paulussaale in Freiburg im Breisgau, S. 9-14. Archiv des Deutschen Caritasverbandes 080/38-77a.
4. Ebd.
5. Vgl. Callori, C.: Georg Hüssler - Reisender in Sachen Nächstenliebe. Freiburg i. Br.: Lambertus, 2015, S. 40.
6. Vgl. ebd. S. 81 und Scheu, J.: Auf Friedensmission. Algerien - Vietnam - Biafra - Polen. In: Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Menschlichkeit als Spiritualität. Georg Hüssler zum 85. Geburtstag. Freiburg i. Br.: Herder, 2006, S. 154.
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