Krisensituationen für positive Weichenstellungen nutzen
Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen ist in besonderem Maße in dem für die Kinder- und Jugendhilfe kennzeichnenden Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle angesiedelt. Als "andere Aufgabe" in der Rechtssystematik befugt und verpflichtet sie das Jugendamt im Rahmen des staatlichen Wächteramtes dazu, Kinder und Jugendliche bei einer dringenden Gefahr für ihr Wohl - gegebenenfalls auch gegen den Willen der Personensorgeberechtigten und unter Hinzuziehung des Familiengerichts - an einen sicheren Ort zu bringen. Was über die Eingriffsbefugnis manchmal in den Hintergrund gerät, ist die Tatsache, dass § 42 SGB VIII auch einen Leistungstatbestand beschreibt: Gemeinsam mit § 8 Absatz 2 SGB VIII und dem durch das neue Bundeskinderschutzgesetz noch gestärkten Absatz 3, der Kindern und Jugendlichen das Recht auf Beratung auch ohne Kenntnis der Personensorgeberechtigten zugesteht, ist er eine der wenigen Rechtsnormen im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII), die Kindern und Jugendlichen eigene Rechtsansprüche einräumen (vgl. Beitrag auf S. 13ff. in Heft 11/2012). Eine Adresse zu haben, die berechtigt und verpflichtet ist, ihnen Schutz und Zuflucht zu gewähren, ist für viele Mädchen und Jungen in Krisen- und Notsituationen existenziell.
Seit sich die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit insbesondere für dramatisch verlaufende Kinderschutzfälle erhöht hat, werden Jahr für Jahr mehr Mädchen und Jungen in Obhut genommen. Während 2005 bundesweit noch 25.664 vorläufige Schutzmaßnahmen gewährt wurden, waren es im Jahr 2010 bereits 36.343, ein Anstieg um mehr als 40 Prozent (vgl. Kasten auf S. 16f. in Heft 11/2012). Die meisten Inobhutnahmen (71 Prozent) erfolgen aufgrund einer Gefährdung; das heißt, das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen kann an dem derzeitigen Aufenthaltsort nicht gewährleistet werden und veranlasst das Jugendamt, tätig zu werden. Knapp 30 Prozent aller in Obhut genommenen Kinder und Jugendlichen werden selbst aktiv und bitten um Inobhutnahme.1 Je nach persönlichen Merkmalen - Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund - wird die Hilfe sehr verschieden in Anspruch genommen und macht unterschiedliche Handlungs- und Weiterentwicklungsbedarfe in der Praxis sichtbar. Für die Gruppe der unter sechsjährigen Kinder und der jugendlichen Mädchen wird dieses im Folgenden exemplarisch ausgeführt.
Der Anstieg der Inobhutnahmen betrifft überproportional kleine Kinder und hier vor allem die unter Dreijährigen. 2010 wurden 5769 Kinder unter drei Jahren bundesweit in Obhut genommen. Das entspricht einer Steigerungsrate von 2005 bis 2010 um 89 Prozent. Auch bei den Drei- bis Sechsjährigen sind die Inobhutnahmen im gleichen Zeitraum überproportional (74 Prozent) angestiegen. Kinder in diesem Alter werden ausnahmslos aufgrund von Gefährdungen in Obhut genommen, die den sozialen Diensten, bei Einsätzen durch Polizei/Ordnungsbehörden oder im Rahmen der medizinischen Versorgung offenbar werden.
Viele Familien haben sozioökonomische Probleme
Wo liegen die Gründe, dass gerade kleine Kinder in den letzten Jahren so in den Fokus geraten? Vier Faktoren sind hier vor allem zu nennen:
1. Wachsende sozioökonomische Belastungen: Gerade kleine Kinder, die in Obhut genommen werden beziehungsweise die stationäre Hilfen zur Erziehung gewährt bekommen, sind in besonderer Weise von Armutslagen betroffen. Mehr als zwei Drittel stammen aus Alleinerziehendenfamilien; mehr als vier von fünf kommen aus Familien, die auf finanzielle Transferleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen sind.2
2. Der Ausbau der frühen Hilfen und der U3-Betreuung: Das Ziel, früher Zugänge zu Familien mit Säuglingen und Kleinkindern zu finden, führt auch zu einer höheren Inanspruchnahme von Hilfen in dieser Altersgruppe.
3. Die Entwicklungen im Kinderschutz: Die mediale Aufmerksamkeit und gesetzliche Neuregelungen (zum Beispiel § 8a SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz, 2005) haben die Sensibilität und die Meldebereitschaft bei Hinweisen auf Kindeswohlgefährdung insbesondere bei kleineren Kindern erhöht.3
4. Die Ergebnisse der Hirnforschung und der Bindungstheorie: Sie haben das Wissen und die Sensibilität für die spezifischen Bedarfe und Entwicklungsrisiken von Säuglingen und Kleinkindern gefördert.
Wie in keiner anderen Lebensphase sind Säuglinge und Kleinkinder auf umfassende Betreuung und Versorgung angewiesen; ihr Wohlbefinden hängt unmittelbar von der erfahrenen Fürsorge ab. Hinzu kommt, dass eine sichere Bindung für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutend ist.
Gerade in der ganz frühen Kindheit können sich destruktive familiäre Bindungen nachhaltig entwicklungsschädigend auswirken. Gewalt und Vernachlässigung können unmittelbar lebensbedrohlich enden, so dass manchmal rasche Interventionen unumgänglich sind. Inobhutnahmen sind aber immer auch gravierende Einschnitte in die Biografien und Lebenswelten kleiner Kinder und ihrer Familien.
Die zentrale Herausforderung liegt darin, die Risiken und Ressourcen eines Verbleibs in der Familie gegenüber den Chancen und Belastungen an einem neuen Lebensort genau abzuwägen4 und die spezifischen Bedarfe kleiner Kinder im Rahmen der Hilfeverläufe und -settings fachlich angemessen zu beantworten. Dabei gilt angesichts der entwicklungspsychologischen Bedeutung dieser Lebensphase und der biografischen Tragweite von Inobhutnahmen: Kleine Kinder brauchen große Hilfen! Auf die kindlichen Bedarfe nach Überschaubarkeit, Bindungsangeboten und Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist vielerorts mit einem Ausbau und einer fachlichen Qualifizierung der Bereitschaftspflege reagiert worden. Als weitergehende dringende Handlungsbedarfe zeichnen sich darüber hinaus ab:
- Eine engere Verzahnung von Inobhutnahme/Bereitschaftspflege, Pflegekinderwesen und stationären Einrichtungen. Damit könnten zum Beispiel auch Kinder in Bereitschaftspflege von den therapeutischen Möglichkeiten stationärer Einrichtungen profitieren. Die Entscheidung zur Inobhutnahme in einer Einrichtung muss dann nicht - wie gegenwärtig - für 68 Prozent der Kinder bedeuten, auf Dauer dort zu verbleiben.5
- Der Ausbau einer qualifizierten Elternarbeit auch bei Inobhutnahme oder vorläufiger Unterbringung der Kinder. Dies ist nötig, um vorhandene Ressourcen und Erziehungskompetenzen zu stärken, Chancen auf eine Rückführung fundiert zu prüfen oder aber auch - bei einem Verbleib der Kinder außerhalb der Familie - mit den Eltern an Abschied, Trauer und einer Neudefinition ihrer Elternrolle zu arbeiten und so den Kindern den Start in einer neuen Umgebung zu erleichtern.
- Eine qualifizierte, zeitlich eng getaktete Hilfeplanung und eine offensive Ausgestaltung der unterschiedlichen Rollen im familiengerichtlichen Verfahren. Dies sind Voraussetzungen, um die Dauer der Übergangslösungen, die für kleine Kinder derzeit durchschnittlich bei einem halben Jahr liegt, was für das kindliche Zeitempfinden sehr lang ist, so kurz wie möglich zu halten.6
Vorläufige Schutzmaßnahmen haben - ungeachtet der Zunahme bei kleinen Kindern - nach wie vor besonders für Jugendliche Bedeutung: Die 14- bis 18-Jährigen machen bei den Inobhutnahmen die mit Abstand größte Altersgruppe aus. Bereits ab zwölf Jahren nehmen insbesondere die Hilfegesuche für Mädchen deutlich zu und übersteigen bis zum Alter von 16 Jahren die der Jungen. In dieser Altersspanne sind von den insgesamt 15.086 zeitweilig aufgenommenen Jugendlichen 58 Prozent Mädchen. Sie flüchten aus ihren Familien oder Heimen und werden über private Vertrauenspersonen vermittelt oder von der Polizei an jugendgefährdenden Orten aufgegriffen. In dieser Gruppe steigt die Zahl der Selbstmelderinnen deutlich an. Im Vergleich zu Jungen werden Mädchen doppelt so häufig auf eigenen Wunsch oder auch auf Vermittlung durch Lehrer(innen) aufgenommen. Zudem kommen sie häufiger direkt aus ihren Familien.
Gewalt und Misshandlung in der Familie
Die Pubertät erweist sich in mehrfacher Hinsicht gerade für Mädchen als bedeutsamer Einschnitt: Viele der Mädchen sind von Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlung in ihren Familien betroffen, auch wenn dieses vielfach nicht der angegebene Aufnahmegrund ist, sondern sie erst bei entsprechend gewachsenem Vertrauen davon zu berichten wagen. Ihre Bewältigungsstrategien sind häufiger leise und unauffällig und werden erst wahrgenommen, wenn sie sich in psychischen Auffälligkeiten oder Schulproblemen äußern. Hintergrund familiärer Konflikte sind auch geschlechtsspezifische Rollenerwartungen. So erleben Mädchen - insbesondere mit Migrationshintergrund, die in Einrichtungen der Inobhutnahme im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überrepräsentiert sind -, dass im Jugendalter ihr Bewegungsspielraum reglementiert und eingeschränkt wird. Erst die fortschreitende Selbstständigkeit ermöglicht ihnen, eigene Zugänge zu Hilfen zu finden. Oft sind dem Schritt aus ihren Familien lange Prozesse des Abwägens vorausgegangen.
Hieraus ergeben sich Handlungsbedarfe und Anforderungen an die Praxis:
- Spezialisierte, geschlechterdifferenzierte Konzepte: Der hohe Anteil der Selbstmelderinnen belegt, wie sehr Jugendliche in Krisensituationen auf Anlaufstellen und Adressen angewiesen sind. Werden Inobhutnahmeplätze zunehmend in Heimgruppen integriert, reduziert das die Chancen von Jugendlichen, Hilfe zu finden.7
- Stärkung der Autonomie: Hintergrund der Inobhutnahme sind oft Gewalterfahrungen und familiäre Konflikte, bei denen die Mädchen sich als machtlos erleben. Um die Interessen von Kindern und Eltern im Hilfeplanverfahren gleichberechtigt zu berücksichtigen, bedürfen Mädchen einer Hilfeplanung, in der ihnen eine Person, die ihre Interessen vertritt, zur Seite steht und in der ihre Autonomiebestrebungen ausreichend zur Geltung kommen und gestärkt werden.
- Dauer der Hilfen: Mädchen treten später als Jungen in Hilfen ein. Diese bedarfsgerecht zu gestalten heißt, dass auch ausreichend Zeit für Veränderung vorhanden sein muss, was oft - gerade bei jungen Migrantinnen - auch Hilfen über die Volljährigkeit hinaus notwendig macht.8
Inobhutnahme ist eine anspruchsvolle fachliche Aufgabe, die neben einer qualifizierten sozialpädagogischen Versorgung, Betreuung und Beratung auch eine professionelle Fallsteuerung erfordert, um biografische Krisensituationen, die sich tief in die Lebenserfahrungen und das Gedächtnis der Betroffenen eingraben, für positive Weichenstellungen nutzen zu können.
Anmerkungen
1. Diese Zahlen und weitere Daten - sofern nicht anders vermerkt: eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2010. Wiesbaden, 2011.
2. Fendrich, Sandra: (Zeitweilige) Unterbringung kleiner Kinder - ein Blick in den Zahlenspiegel. Input auf der HzE-Jahrestagung des LWL-Landesjugendamts, Münster, 7. November 2011.
3. Über den realen Bedarf an Hilfen sagen die Daten dabei wenig aus. Es ist nicht auszuschließen, dass der erhöhte Handlungsdruck und die Angst, Fehler zu machen beziehungsweise Risiken nicht tragen zu können, im Einzelfall Mitarbeiter(innen) in Jugendämtern dazu verleiten kann, Hilfeentscheidungen auch an der Absicherung des eigenen professionellen Handelns und nicht nur ausnahmslos am Kindeswohl auszurichten. Belege, dass in vorschnellen Reaktionen die Ursachen für die Anstiege der Inobhutnahmen zu suchen sind, gibt es hingegen nicht. Gegen eine solche Hypothese spricht, dass viele Jugendämter ihre Kinderschutzverfahren standardisiert haben.
4. Wolf, Klaus: Hilfen für Kleinstkinder in Krisen: Chancen und Risiken an einem neuen Lebensort auf Zeit. In: Arbeitsgruppe Fachtagungen im Deutschen Institut für Urbanistik (Hrsg.): Wenn Frühe Hilfen nicht greifen. Unterbringung von Klein(st)kindern. Berlin, 2010.
5. Zitelmann, Maud: Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahme. Hinweise und Ergebnisse einer bundesweiten Studie. In: Lewis, Graham et al. (Hrsg.): Inobhutnahme konkret. Pädagogische Aspekte der Arbeit in der Inobhutnahme und im Kinder- und Jugendnotdienst. Frankfurt, 2010.
6. Kress, Laura; Hansbauer, Peter (Hrsg.): Kleine Kinder in stationären Hilfen: Ergebnisse eines Praxisentwicklungsprojekts. Hannover, 2012.
7. Pothmann, Jens: Zwischen Leistung und Eingriff - die vielen Gesichter der Inobhutnahme. In: Lewis, Graham et al. (Hrsg.), a.a.O.
8. Ter Nedden, Corinna: Der besondere Schutzbedarf junger Migrantinnen bei der Inobhutnahme. In: Lewis, Graham et al. (Hrsg.), a.a.O.