Arbeitskräftemigration heute und morgen
Die Migrationsdebatte in Deutschland befindet sich im Wandel. Bisher wurde Migration vor allem als ein Phänomen betrachtet, das es zu verhindern oder wenigstens zu begrenzen gilt. Mittlerweile scheint aber ein demografiebedingter Bedarf an Zuwanderung nicht nur von einer Mehrheit in der Politik, sondern auch seitens der Bevölkerung kaum noch in Frage gestellt zu werden. Gewünscht wird zumindest die Zuwanderung von Hochqualifizierten - niedrigqualifizierte Zuwanderer dagegen sind weniger willkommen.
In der Debatte wird oft übersehen, dass global gesehen Deutschland in jüngster Zeit kein wichtiges Einwanderungsland war. Das gilt für die Zuwanderung Hochqualifizierter, die nicht im gewünschten Maß nach Deutschland streben, und die gesamten weltweiten Migrationsbewegungen.
Leben außerhalb der Heimat
Der Umfang der weltweiten Wanderungsbewegungen1 ist hoch, wird aber im Vergleich zur Binnenmigration (also innerhalb eines Staates) oft überschätzt. Weltweit gibt es etwa 740 Millionen Binnenmigrant(inn)en. Außerhalb ihres Herkunftslandes leben weltweit circa 200 Millionen Migrant(inn)en - Flüchtlinge nicht mitgezählt. Bei dieser grenzüberschreitenden Migration wandert nur gut ein Drittel der Migrant(inn)en aus Entwicklungsländern in hochentwickelte Länder. Der größte Teil des Migrationsgeschehens findet zwischen gut entwickelten Ländern statt.
Die Gründe für Migration sind vielfältig. Ein Schwerpunkt ist neben der Familienzusammenführung die temporäre und langfristige Arbeitsmigration. Bei Arbeitsmigrant(inn)en, die in den vergangenen Jahren in eines der OECD-Länder eingewandert sind, überwog die temporäre Migration. Obwohl aufgrund der Wirtschaftskrise ein Rückgang zu beobachten war, belief sich im Jahr 2009 die Zahl der befristet Zugewanderten auf 1,9 Millionen im Vergleich zu 1,5 Millionen dauerhaft Zugewanderten. Von den befristet Beschäftigten waren circa 45 Prozent Saison- oder Urlaubsarbeiter(innen). Die Zunahme temporärer Migration beruht auch auf den heutigen schnellen und preiswerten Transport- und Kommunikationsmitteln.
Zuwanderung mündet einerseits vor allem in hochqualifizierten Tätigkeiten und andererseits in Tätigkeiten am unteren Ende der Qualifikations- und Lohnskala. Um die hochqualifizierten Migrant(inn)en wird weltweit geworben - die Zuwanderung von niedrigqualifizierten Migrant(inn)en dagegen ist trotz Bedarf unerwünscht und findet vielfach auf irregulären Wegen statt. Eine Vielzahl dieser Migrant(inn)en lebt und arbeitet ohne legalen Aufenthaltsstatus im Aufnahmeland.
Ende 2011 zählte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) gut zehn Millionen Menschen, die als Flüchtlinge im Ausland leben. In Europa lebten mit 1,6 Millionen Flüchtlingen weniger als allein in Pakistan (1,7 Millionen Flüchtlinge). Deutschland beherbergte mit knapp 600.000 Flüchtlingen mehr als jeder andere europäische Staat - aber wesentlich weniger als der Iran und Syrien. Die Mehrheit der Flüchtlinge bleibt in der Herkunftsregion, und infolgedessen lebten 8,6 der 10,4 Millionen Flüchtlinge in Afrika, dem Mittleren und Nahen Osten sowie in Asien und dem pazifischen Raum.
Deutschland als Zielland
Trotz des Anwerbestopps 1973 hat immer Zuwanderung nach Deutschland stattgefunden.2 Im letzten Jahrzehnt hat sie allerdings kaum zum Bevölkerungswachstum beigetragen: Nach einem Höchststand Anfang der 1990er Jahre mit einem Zuwanderungsplus von rund 300.000 pro Jahr war der Wanderungssaldo der Zu- und Fortzüge (Differenz zwischen Zu- und Abwanderung) von ausländischen Staatsangehörigen in den Jahren 1997 und 1998 negativ, das heißt, es zogen mehr Menschen fort als zu. Danach schwankte der Zuwanderungssaldo zwischen knapp 200.000 (2001) und 10.000 Personen (2008) pro Jahr. Parallel dazu wanderten in den letzten zehn Jahren stets deutlich über 100.000 Deutsche pro Jahr aus. Beim vorläufigen Höhepunkt der Auswanderungswelle im Jahr 2008 lag die Zahl bei 174.759. Insgesamt kam es dadurch in den Jahren 2008 und 2009 wieder zu einem negativen Wanderungssaldo. Seit 2010 steigen die Zuwanderungszahlen insbesondere von EU-Bürger(inne)n, so dass der Wanderungssaldo wieder im positiven Bereich liegt. Von den 622.506 im Jahr 2011 zugewanderten Ausländer(inne)n hatten 356.778 die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates.
Die Zuwanderung von EU-Bürger(inne)n ist wegen der Freizügigkeit nicht steuerbar. Die aktuell sehr hohen Zahlen beruhen vor allem auf den wirtschaftlichen Krisen in Griechenland, Spanien und Italien und auf der beträchtlichen Zuwanderung aus Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, wobei es bei Polen, Bulgaren und Rumänen eine besonders hohe Fluktuation gibt. Über die Zahl der EU-Bürger(innen), die sich, ohne sich anzumelden, in Deutschland aufhalten, liegen keine Erkenntnisse vor.
Bis 2009 wanderten pro Jahr nur jeweils knapp 200.000 Menschen aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland ein. Seit der Wirtschaftskrise steigen auch hier die Zahlen wieder: im Jahr 2010 auf 232.007 Personen, 2011 noch einmal auf 265.728. 14 Prozent kamen zum Zweck der Erwerbstätigkeit, fast 18 Prozent, um in Deutschland zu studieren oder eine Ausbildung zu machen.
Zahlenmäßig nicht erfassen lässt sich die Zahl der Ausländer(innen), die ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Deutschland leben und arbeiten. Schätzungen gehen von 450.000 Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität aus, von denen ein erheblicher Teil in Landwirtschaft, Gastronomie, Bauwirtschaft und in Privathaushalten beschäftigt wird.
Qualifizierte Arbeitskräfte in speziellen Branchen gesucht
Mit Blick auf die gemeldeten offenen Stellen und Arbeitsuchende lässt sich derzeit ein allgemeiner Fach- oder Arbeitskräftemangel in Deutschland nicht feststellen. Allerdings gibt es in vielen Betrieben, Regionen und Branchen offene Arbeitsplätze.3 Arbeitgeber bestimmter Branchen beklagen lange Vakanz-Zeiten bei der Stellenbesetzung. Es gibt Engpässe bei den Gesundheitsberufen, in gewerblich-technischen Berufen und im "Mint"-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Anders als der oft geäußerte Wunsch nach mehr Zuwanderung von Hochqualifizierten vermuten lässt, ist der Mangel bei beruflich Qualifizierten deutlich höher als der Mangel an Akademiker(inne)n.
Die reale Arbeitskräftezuwanderung entspricht nicht unbedingt dem gemeldeten Bedarf. In der öffentlichen Diskussion dominiert die Anwerbung von Ingenieuren und IT-Fachleuten sowie von Pflegekräften. Tatsächlich wurden im Jahr 2011 etwa 13 Prozent der Arbeitsgenehmigungen für den Bereich Information und Kommunikation erteilt und nur sieben Prozent für eine Tätigkeit im Gesundheitswesen. Circa 17 Prozent der Arbeitsgenehmigungen waren für das verarbeitende Gewerbe, knapp 14 Prozent für wirtschaftliche Dienstleistungen (einschließlich Gebäudereinigung) und elf Prozent für die Gastronomie. Immerhin knapp 20 Prozent der Arbeitsgenehmigungen wurden für nicht qualifizierte Beschäftigungen erteilt, nur 0,05 Prozent für eine besonders hochqualifizierte Tätigkeit.
Zuwanderung kann demografische Probleme mildern
Die Diskussion über die künftige Zuwanderung ist stark davon geprägt, dass aufgrund der demografischen Entwicklung die Bevölkerung und damit auch die Zahl der erwerbsfähigen Menschen kontinuierlich zurückgeht.4 Zugleich steigt der Bevölkerungsanteil derer, die bereits das Rentenalter erreicht haben. Der Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung lässt sich zwar nicht eins zu eins in einen zu erwartenden Arbeitskräftemangel umrechnen. Prognostizieren lässt sich aber, dass die Risiken des demografischen Wandels durch eine Mobilisierung inländischer Potenziale und durch ein Mehr an Zuwanderung gedämpft werden könnten.
Einigermaßen realistische Szenarien gehen von 100.000 oder 200.000 Zuwanderer(inne)n pro Jahr aus. Soll den demografischen Veränderungen auch durch Zuwanderung begegnet werden, muss für eine zukunftsfähige Migrationspolitik allerdings bedacht werden, dass die anderen Industrie- und EU-Staaten eine ähnliche demografische Entwicklung wie Deutschland bereits erleben oder auf sie zusteuern. Da diese Potenziale also "endlich" sind, muss über mehr Zuwanderung aus anderen Ländern nachgedacht werden.
Caritas will eine neue Migrationspolitik
Auch der Deutsche Caritasverband (DCV) geht davon aus, dass die Globalisierung und der demografische Wandel die Gesellschaft (nicht nur) in Deutschland vor Herausforderungen stellen, auf die es zu reagieren gilt.5 Migration kann dazu beitragen, Arbeitskräftebedarfe zu befriedigen oder Engpässe zu beheben. In einer zunehmend weltumspannend vernetzten Welt und damit auch Wirtschaft kann sie Vernetzungsprozesse unterstützen und einen Beitrag zur Erschließung neuer Märkte leisten. Allerdings darf Zuwanderung nicht einseitig vor dem Hintergrund deutscher Interessen betrachtet werden. Das entspräche nicht den Anforderungen an eine Migrations- und Integrationspolitik, die sich an den humanistischen Grundwerten Deutschlands und seinen menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtungen ausrichtet.
Der Staat hat das Recht, Einreise und Aufenthalt zu regeln, und bei der Zuwanderung von Arbeitskräften dürfen arbeitsmarktpolitische oder wirtschaftspolitische Ziele bestimmend sein. Migrationspolitik muss aber in grenzüberschreitenden Zusammenhängen denken. Zuwanderungsregelungen müssen immer humanitäre Standards achten und die Würde und die Sicherheit von Arbeitsmigrant(inn)en garantieren. Neben den Interessen der deutschen Gesellschaft und der Migrant(inn)en müssen auch die Folgen für die Herkunftsländer berücksichtigt werden.
Derzeit verfügt Deutschland zwar theoretisch über das Instrumentarium, um Arbeitsmigration zu gestalten. In der Praxis sind die Rahmenbedingungen jedoch wenig transparent und einladend. Das Zuwanderungsrecht baut auch für gut qualifizierte Arbeitsmigrant(inn)en hohe Hürden auf. Gering Qualifizierte aus Drittstaaten haben nur geringe Chancen auf einen legalen Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit, obwohl auch hier erkennbar Bedarf besteht - wie die Zahlen für Saisonarbeit und auch die Beschäftigung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus zeigen.
Mehr Optionen für legale Zuwanderung
Migrationspolitik darf nicht nur verhindern, sondern soll gestalten. Die ständigen Rechtsverschärfungen auf nationaler und auf EU-Ebene in den vergangenen Jahren haben illegale Zuwanderung nicht unterbinden können, sondern dazu geführt, dass Migration immer teurer und gefährlicher wird. Auch um hier die Situation zu verbessern, muss über mehr legale Zuwanderung nachgedacht werden. Die Eröffnung legaler Optionen und der Abbau bürokratischer Hemmnisse können dazu beitragen, dass sich Zuwanderung vom illegalen in den legalen Bereich verschiebt.
Viele Menschen, die derzeit aus wenig entwickelten Staaten nach Deutschland kommen wollen, sind keine Armutsflüchtlinge, sondern potenzielle Arbeitskräfte. Sie kommen teilweise illegal nach Deutschland, weil ihnen die legalen Wege verschlossen sind. Um dem entgegenzuwirken, müssen Wege der temporären Migration entwickelt werden.
Eine wichtige Folge von Migration sind die Geldüberweisungen der Migrant(inn)en in die Herkunftsstaaten und die sogenannten "social remittances". Es lässt sich beispielsweise beobachten, dass Migration Bildungsanreize schafft oder zu größerer sozialer Durchlässigkeit in den Herkunftsstaaten führen kann. Derartige positive Effekte ließen sich stärken, wenn mehr Zuwanderung aus ärmeren Ländern zugelassen würde. Damit könnte Migration auch ein Baustein zur Stabilisierung der Herkunftsländer sein.
Anmerkungen
1. Siehe dazu OECD: Bericht über die menschliche Entwicklung. 2009, S. 30; OECD (Hrsg.): Internationaler Migrationsausblick: SOPEMI, 2011, Deutsche Zusammenfassung, Paris, 2011; UNHCR: Global Trends 2011, Genf, 2012.
2. Siehe dazu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Das Bundesamt in Zahlen 2011. Nürnberg, 2012.
3. Siehe dazu Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.): Fachkräfte sichern - Engpassanalyse (Stand März 2012). Berlin, 2012; Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): Arbeitsgenehmigungen-EU und Zustimmungen. Berichtsjahr 2011.
4. Siehe Statistisches Bundesamt: Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung im Bund und in den Ländern. Heft 1/2011, Wiesbaden, S. 6.
5. Siehe dazu Deutscher Caritasverband: Miteinander leben - Perspektiven des Deutschen Caritasverbandes zur Migrations- und Integrationspolitik. Grundlagen - Zentrale Botschaften - Erläuterungen. Freiburg, 2008, siehe neue caritas Heft 18/2008, S. 30-39.