Greta schnauft. Wo sind die Farben hin? Sie ist fünf und runzelt die Stirn, als sie auf dem grauen Teppich ihrer Kita in Bremen kniet. Vor ihr ein Tablet, auf das sie gerade mit dem Finger ein Haus mit blauer Tür, Dach und Fenstern gemalt hat. Nur: Ein Fenster gefällt ihr nicht, also muss das weg. Sie will auf den Radiergummi drücken, aus Versehen markiert sie alles. Sie tippt und drückt, nichts passiert. Dabei fehlt noch Himmel über dem Haus.
Also muss Melanie Ross helfen, sie entfernt die Markierung und Greta kann den Himmel blau anstreichen. Mit ihrem Zeigefinger wischt sie hin und her. Früher hat Erzieherin Melanie Ross in einem Berliner Brennpunktviertel gearbeitet. Heute zeigt sie Greta und drei anderen Kindern in der Kindertagesstätte St. Nikolaus in Bremen, wie sie auf einem Tablet ihre Superhelden und -heldinnen zeichnen.
Ob und wie Fernsehen, Computer und Konsolen Kindern schaden, ist umstritten
Drei Viertel der Sechs- bis Dreizehnjährigen schauen regelmäßig Fernsehen, jeden oder fast jeden Tag. Das geht aus der repräsentativen Studie KIM (Kindheit, Internet, Medien) 2016 hervor. Genauso viele nutzen Computer oder Laptop. Wie schädlich das ist, darüber streiten Experten. Braucht es also zusätzlich Tablets in der Kita? Die einen meinen, dass Kinder heute auch in einer digitalen Welt leben lernen müssen. Andere glauben, dass diese Nutzung von Fernsehen, Konsolen oder Computern der Grund für Bewegungsmangel, Übergewicht und Entwicklungsstörungen sei.
Unterschied zwischen kreativer Nutzung und reinem Konsum
Melanie Ross, 32, dunkle Haare und Brille, sagt Ja zum Tablet. Ein Jahr lang hat die Erzieherin dafür das Projekt "Medien-Kids" besucht, das Pädagogen zeigen soll, wie sie das Tablet sinnvoll einsetzen können. "Wir müssen den kreativen Umgang mit Medien fördern, weg vom reinen Konsum, oft setzen Eltern ihre Kinder einfach vor die Laptops", sagt Edina Medra vom Projekt Medien-Kids. "Außerdem müssen wir die Medienwelten der Kinder aufgreifen. Die haben Helden aus Serien und Filmen, diese Lebensrealität dürfen wir nicht ausklammern", sagt Medra.
Kinder in ihrer Lebensrealität ernst nehmen
"Ein richtiges Konzept haben wir nicht", sagt Melanie Ross. "Ich bin eine Macherin und habe gedacht, ich fange einfach an." Also schnappt sie sich ab und zu drei, vier Kinder ihrer Gruppe, immer für eine Stunde. So wie heute, einem Dienstagnachmittag im November. Ross hockt im Schlafraum der Kita in Bremen und entwirrt die Kabel, stöpselt Tablet an Beamer an und an der Wand gegenüber leuchtet der Bildschirm auf. Greta, Muhammed, Marlon und Nana haben ihre Superhelden und -heldinnen gemalt. Analog, auf Papier mit echten Stiften. Ross hat die Zeichnungen mit dem Tablet fotografiert, die nun an der Wand aufleuchten.
Muhammed, kurze, dunkle Haare und ein breites Grinsen, ist fünf und mag Ninjago, eine Lego-Figur. Er hat einen roten Quadratkasten auf zwei Beinen gezeichnet, ein Schwert in der Hand. Eine rote Maske verhüllt das Gesicht, nur die dunklen Augen schauen hervor. Und: Melanie Ross hat die Kinder mit einem Mikrofon aufgenommen, sie drückt den Play-Knopf neben dem Bild und Muhammeds Stimme tönt aus dem Tablet: "Er ist mein Held, weil er gegen die Ultrabösen kämpft. Und viele Freunde hat." Marlon, Greta und Nana gickern. Melanie Ross kann sämtliche Medien mit dem Tablet abspielen, muss sich keinen Kassettenrekorder, CD-Player und CDs besorgen. Sie nutzt ihren Spotify-Account.
Mehrwert in therapeutischen Bereichen
Für Ross und ihre Kollegin, die Sozialpädagogin Beatrix Kaufmann, ist das Tablet aber mehr als nur ein nettes Gimmick. Kaufmann arbeitet in Bremen-Gröpelingen mit Kindern, die sprachlich gefördert werden müssen, die Zuhause wenig Deutsch hören oder deren Eltern ihnen kaum vorlesen. Sie sagt: "Mit dem Tablet kann ich das nachhören, was die Kinder sagen. Ich kann hören, wo Adjektive oder Verben in Sätzen fehlen. Und ich kann besser reflektieren, wo ich die Kinder noch unterstützen muss." Gut sei, dass auch schüchterne Kinder eher bereit sind, zu sprechen. Wenn sie nicht vor 20 anderen im Morgenkreis, sondern nur vor drei erzählten, warum sie die Sendung mit der Maus oder Batman mögen, sagt Kaufmann.
Kritiker warnen dennoch vor einer Nutzung für Kinder unter sechs Jahren
Gerald Lembke ist Professor für Digitale Medien in Baden-Württemberg und ein Gegner des Einsatzes digitaler Technologien bei Kleinkindern. "Eine positive Wirkung digitaler Technologien auf die Entwicklung konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Stattdessen ist belegt, dass die Nutzung insbesondere für Kinder unter sechs Jahren schädlich sein kann", schreibt Lembke in einem Beitrag für das Deutsche Jugendinstitut. Melanie Ross findet es wichtig, dass Kinder den Umgang mit Medien lernen. Das bereite die Kinder auch auf die Schule vor. Gerald Lembke kritisiert diese Forderung, dass Kinder für eine digitale Zukunft fit gemacht werden sollen. "Eltern, pädagogische Fachkräfte und Kinder dürfen nicht zu Erfüllungsgehilfen ökonomisch getriebener Erwartungen erzogen werden", schreibt er.
Der Weg zur digitalisierten Kita ist noch weit
Melanie Ross will aber mehr, als das Tablet einmal alle paar Wochen zu nutzen und den Kindern den Umgang damit zu zeigen. Sie will den Weg zu einer digitalisierten Kita ebnen. "Ich möchte nicht mehr die Entwicklungsberichte ausdrucken und mit Stift ausfüllen. Ich möchte den Eltern nicht nur erzählen, wie ihre Kinder sich entwickeln. Ich möchte es ihnen zeigen." Dafür filmt und fotografiert sie die Kinder mit dem Tablet.
Gröpelingen in Bremen ist ein Stadtteil, in dem die Hälfte der Bewohner einen Migrationshintergrund hat. Beatrix Kaufmann sagt, dass die Eltern, die noch nicht gut Deutsch sprechen, den bildlichen Input verstünden. Manchmal, sagt Kaufmann, weinten die Kinder, wenn ihre Eltern sie morgen abgeben. Wenn Kaufmann ihnen mit einem Video zeige, dass die Kinder zwar morgens geweint haben, nachmittags aber spielten, wüssten die Eltern: Alles ist okay.
Vorgaben des Datenschutzes werden ernst genommen
Melanie Ross und Beatrix Kaufmann wollen nicht jeden Tag mit dem Tablet arbeiten. Das sei auch schwierig, bei 20 Kindern in einer Gruppe und nur einem Gerät. Außerdem seien Eltern vorsichtig und skeptisch, vor allem, wenn es um Datenschutz gehe. "Wir filmen die Kinder nicht heimlich. Das würde nicht funktionieren", sagt Melanie Ross. Die würden sofort hinter die Kamera flitzen und mitmachen wollen. "Wir fragen: Darf ich das Mama und Papa zeigen?" Kinder seien unbeschwert - und die Aufnahmen würde sie wieder löschen.
Eltern selbst dürfen nicht filmen, jedenfalls nicht in der Kita. Nicht, wenn die Kinder am Martinstag mit Laternen durch die Straßen ziehen, nicht, wenn sie ein Theaterstück aufführen. Datenschutz. "Wir wissen nicht, wo die Aufnahmen landen, nur zu Hause, wenn sie das den Großeltern vorspielen, oder doch in sozialen Medien." Nicht alle Eltern seien damit einverstanden. "Das frustriert - und das kann ich verstehen", sagt Melanie Ross.
Beim positiven Umgang mit digitalen Medien überwiegen die Vorteile
Melanie Ross kniet noch immer auf dem grauen Teppich in der Kita, die Stunde ist fast vorbei. Ein Spiel hat sie noch vorbereitet. Sie verschwindet kurz mit Marlon vor die Tür, sagt ihm, was er gleich auf dem Tablet zeichnen und was die anderen Kinder auf dem Beamer erraten sollen. Er stürmt hinein, hockt sich vor das Tablet, zückt den schwarzen Stift, zieht eine diagonale Linie hoch, dann nach rechts und wieder hinunter. Die anderen Kinder raten, kaum hat er den ersten Reifen angesetzt, da schreit Greta: "Auto!" Schon hat Marlon die Zeichnung weggewischt.
"Ich kann sofort Ergebnisse präsentieren", sagt Beatrix Kaufmann, die Sozialpädagogin. "Ich muss nicht, wie früher, einen Film entwickeln. Ich kann Fotos einfach zeigen. Und die Kinder bekommen Aufmerksamkeit und Anerkennung." Beatrix Kaufmann und Melanie Ross hoffen, dass Greta oder Muhammed einen positiven Umgang mit Medien lernen. Sie hoffen, dass sie mit dem Tablet malen, fotografieren oder filmen werden, nicht nur Serien oder Filme schauen. Und sie hoffen, dass die Kinder danach auch den Ausknopf finden.
Autor(in): Katahrina Elsner