Fragen an Oliver Nadig
Welche technischen Geräte nutzen Sie?
Zu allererst einmal: Keinen "Blindencomputer", so etwas gibt es nämlich nicht. Blinde Menschen nutzen handelsübliche PC-Hardware und marktübliche Software. Anders hätten wir keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Die Devise für einen blindengerecht ausgestatteten Arbeitsplatz lautet stets: so wenig spezielle Hilfsmitteltechnologie wie möglich und gerade so viel wie nötig. Mein wichtigstes Hilfsmittel ist eine Software, die mir den Bildschirminhalt über eine Sprachausgabe und über eine sogenannte Braillezeile zugänglich macht. Die Braillezeile selbst ist ein flaches Gerät, auf der Bildschirminhalte in der fühlbaren Brailleschrift dargestellt werden. Die Sprachausgabe ertönt aus den PC-Lautsprechern. Die Software, die die Bildschirminhalte an die Sprachausgabe und die Braillezeile schickt, wird als Bildschirmausleseprogramm oder Screenreader bezeichnet.
Bedeutet das, dass der Screenreader Ihnen die Teilhabe an digitalen Angeboten ermöglicht?
Ohne Screenreader könnte ich keinen Computer und kein Smartphone bedienen. Der Screenreader hat für mich den gleichen Stellenwert wie der Bildschirm für eine sehende Person. Screenreader haben eine natürliche Einschränkung: Sie erkennen keine Grafiken, sondern vermitteln immer nur Textinformation. Deshalb sind beispielsweise Alternativtexte und Beschreibungen von Grafiken auf Internetseiten für mich so wichtig. Um ein Betriebssystem oder eine Software nutzen zu können, sind noch zwei weitere Voraussetzungen zu erfüllen: Erstens muss das Programm dem Screenreader alle Informationen liefern, die ich zur Bedienung benötige, zweitens müssen sich alle Funktionen des Programms mit der Tastatur ausführen lassen, denn blinden Menschen steht die Maus als Eingabegerät nicht zur Verfügung. Sind alle Anforderungen erfüllt, ist eine Software barrierefrei und ich kann sie nutzen. Barrierefrei sind beispielsweise die Betriebssysteme Windows und MacOS für Computer bzw. die führenden Betriebssysteme von Smartphones und Tablet-PCs. An Anwendungen sind die standardmäßigen Textverarbeitungen, Tabellenkalkulationen, E-Mail-Programme und Web-Browser für mich zugänglich.
Wo stoßen Sie auf Teilhabebarrieren?
Probleme gibt es immer dann, wenn die Anforderungen an barrierefreie Informationstechnik nicht erfüllt werden: An Umfragen und Gewinnspielen im Internet, bei denen ich mich durch Eintippen eines unleserlichen Grafik-Codes oder Anklicken bestimmter Bilder in einer bestimmten Reihenfolge als Mensch identifizieren muss, kann ich nicht teilnehmen. Viele speziellere Software wie beispielsweise Statistikprogramme, Warenwirtschaftssysteme, Dokumentations- und Zeiterfassungsprogramme sind nicht vollständig mit der Tastatur bedienbar oder geben ihre Informationen nur bruchstückhaft an den Screenreader weiter; deshalb kann ich sie nicht nutzen. Dokumente, in denen die Informationen ausschließlich grafisch veranschaulicht werden, etwa Diagramme ohne gute Beschriftungen, viele Warenkataloge und ähnliches, kann ich nicht lesen. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Technologie zur Nutzung vorhanden ist, allerdings ist das Zusammenspiel der Programme, Webseiten und Dokumente mit dem Screenreader nicht immer gewährleistet.
Wie kann man diesem Missstand entgegentreten?
Was die Software betrifft, so gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder kann man Spezialanpassungen für den Screenreader programmieren, die die Zugangsprobleme umgehen. Oft müssen solche teuren Spezialprogrammierungen nach dem Update der problematischen Software jedoch noch einmal von vorn begonnen werden. Sinnvoller wäre deshalb die zweite Variante: Die betreffende Software gleich so programmieren, dass sie hundertprozentig kompatibel zum Screenreader ist. Deshalb hat der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) e. V. drei Forderungen aufgestellt: Erstens muss barrierefreies Programmieren fester Bestandteil in IT-Studiengängen und Programmierausbildungen sein, denn derzeit ist es ein Glücksfall, wenn man während der Ausbildung zur IT-Fachkraft einmal etwas von Barrierefreiheit hört. Zweitens ist es wichtig, Barrierefreiheit bei Ausschreibungs- und Vergabeverfahren von Anfang an zu fordern, durchzusetzen und später dann auch zu prüfen. Denn die barrierefreieste Software nützt nichts, wenn kein Zwang besteht, sie anschaffen zu müssen. Drittens muss auch die Privatwirtschaft zukünftig zu Barrierefreiheit verpflichtet werden, denn derzeit gelten diesbezügliche Anforderungen nur für öffentliche Stellen. Waschmaschinen, Trockner, Backherde, Kaffeeautomaten und viele andere Geräte der Haushalts- und Unterhaltungselektronik lassen sich immer häufiger nur über Touchscreens oder komplizierte Menüs steuern. Dadurch wird es blinden Menschen trotz - oder gerade wegen - des technischen Fortschritts immer schwerer gemacht, einfache Dinge des täglichen Lebens selbständig zu tun. Wir haben die Erfahrung gemacht: Wenn es keine Gesetze gibt, tut sich nichts. Vereinzelt gibt es Produkte, die auch für Blinde geeignet sind, weil sie barrierefrei sind. Aber das ist leider die Ausnahme. Die Auswahl müsste viel größer sein. Es kann nicht sein, dass ich mich immer nur zwischen wenigen Möglichkeiten entscheiden kann oder sogar ein bestimmtes Produkt nehmen muss.
Eigentlich könnte man denken, dass durch die Digitalisierung immer passgenauere Lösungen gefunden werden können, auch für Blinde.
Dem ist grundsätzlich auch so. Viele Computer, Smartphones und Tablets verfügen heutzutage bereits ab Werk über einen Screenreader. Barrierefreie Apps machen viele Dinge möglich. So kann ich mir Beispielsweise Bus- und Zugverbindungen von unterwegs heraussuchen, kann auf einer Dienstreise meine Mails checken und im Internet recherchieren. Ich kann mir von meinem Smartphone Texte vorlesen lassen, ich kann Produkte anhand ihrer Barcodes erkennen und so die Dose Erbsensuppe vom Hundefutter unterscheiden und vieles, vieles mehr. Aber das geht eben nur, wenn das Smartphone und die erforderlichen Apps barrierefrei programmiert sind - und das ist längst nicht flächendeckend der Fall. Um digitale Teilhabe wirklich zu erreichen, muss noch eine ganze Menge Bewusstseinsbildung in der IT-Branche und in der Politik stattfinden. Vor Allem die Privatwirtschaft hat Nachholbedarf. Touchscreens sind für Blinde schlichtweg nicht bedienbar, wenn sie nicht gleichzeitig über eine Sprachausgabe verfügen. Früher konnte man sich aufschreiben, wie weit man bei der Waschmaschine das Rad drehen muss, um sein Waschprogramm einzustellen. Mit den modernen Menüs geht das nicht mehr. Wenn die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen nicht von Beginn an berücksichtigt werden, befördert die Digitalisierung noch die Teilnahmebarrieren anstatt sie abzubauen. Barrierefreie Geräte sind bisher einzelne Leuchttürme in der Nacht. Gleiche Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit im digitalen Zeitalter zu erwirken ist ein langer Weg, der so lange nicht zu Ende geht, wie die Digitalisierung voranschreitet.
Was können Wohlfahrtsverbände wie die Caritas Ihrer Meinung nach konkret tun?
Zunächst einmal sollte das Informationsangebot der Caritas barrierefrei gestaltet sein. Das heißt, dass Webseiten und die darin enthaltenen PDF-Dokumente in einer für blinde Menschen zugänglichen und gleichzeitig sehfreundlichen Form angeboten werden. Außerdem sollten die einzelnen Einrichtungen schon im Analogen darauf achten, dass blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung sich in ihnen zurecht finden.