Wie beeinflusst Corona das Leben in der stationären Kinder- und Jugendhilfe?
"Im Team sind wir gefordert, die Kinder emotional aufzufangen."Pedro Citoler
Wie sieht der Alltag im Kinderhaus St. Raphael üblicherweise aus?
Unser Zusammenleben kann man sich - gerade mit den Jüngeren - wie Familienleben im Großformat vorstellen: Es wird gemeinsam gefrühstückt, dann gehen alle in die Schule, nach dem Mittagessen stehen die Hausaufgaben im Schulraum an. Wer fertig ist, trifft sich mit Freund_innen, spielt im großen Garten, genießt die Freizeit. Eigentlich merkt man erst beim Abendessen, dass die Jüngeren in zwei Wohngruppen untergebracht sind. Etwas eigenständiger sind die älteren Jugendlichen, die im sogenannten "Trainingswohnen" sind. Sie leben in WGs und lernen dort eine eigenständige Lebensführung.
Wie macht sich Corona in Ihrem Alltag bemerkbar?
Schon im Januar, mit den ersten Fällen in China, wurde Corona beim Mittagessen von den Kindern angesprochen. Den Gesprächsbedarf haben wir daher bei unserem "Sprechabend" aufgegriffen. Damals haben wir die Kinder eher beschwichtigt und versucht, ihnen die Angst zu nehmen. Mit den ersten Fällen in Deutschland haben wir, wie wohl alle in Deutschland, verstärkt auf die Hygieneregeln geachtet.
Der richtige Einschnitt kam bei uns dann mit der Schulschließung. Zunächst einmal mussten wir den Dienstplan umstellen. Vormittags, wenn die Kinder in der Schule sind, ist sonst kein Gruppendienst im Haus. Ich bin dankbar, dass die Kolleginnen und Kollegen das so gut mittragen. Jetzt hat der Schulraum schon ab 10 Uhr geöffnet und der zuständige Kollege ist vormittags statt nachmittags im Dienst, um nicht nur bei den Schulaufgaben, sondern auch im Umgang mit überlasteten Schulservern zu helfen. Einer unserer Bewohner bereitet sich auch gerade auf die Realschulprüfung vor. Ohne Treffen mit der Lerngruppe geschieht auch das unter erschwerten Bedingungen.
Mit den Schulschließungen kam auch das komplette Besuchsverbot für unser Haus, das heißt: keine Freunde mehr zu Besuch und auch für die Eltern gelten strengere Regeln. Sie können ihre Kinder nur an der Haustür für einen Spaziergang abholen.
Wie reagieren die Kinder und Jugendlichen auf die Einschränkungen?
Gerade das Besuchsverbot trifft unsere Kinder hart. Eigentlich sind wir ein offenes, gastfreundliches Haus, die Kinder freuen sich auf die Besuche von Freund_innen und von ihren Eltern. Gerade letztere wohnen aber öfters weiter weg und haben kein eigenes Auto. Solange der öffentliche Nahverkehr in Freiburg nur eingeschränkt benutzt werden darf, lassen sich die Besuche dann einfach nicht machen.
Andere Kinder machen sich Sorgen um ihre Eltern, die zur Risikogruppe gehören. Und als wir die Heimfahrt eines Kindes absagen mussten, kullerten auch ein paar Tränen. Im Team sind wir also gefordert, die Kinder emotional aufzufangen. Dabei hilft auch klarzumachen, dass diese Einschränkungen gerade alle Menschen in Deutschland betreffen und nicht nur die Kinder und ihre Eltern. Außerdem haben wir Videotelefonie eingeführt, damit die Kinder ihre Eltern zumindest digital sehen können.
Was fordert Sie besonders heraus?
Vor allem macht uns die Unsicherheit zu schaffen, die erhöhten Organisations- und Abstimmungsbedarf mit sich bringt: Anfangs stand die Frage im Raum, ob wir überhaupt eine systemrelevante Tätigkeit ausüben. Die Kinder leben bei uns und es gibt einen Grund, weshalb sie nicht in ihren Familien sind. Unsere Referentin für Erziehungshilfe in der Erzdiözese Freiburg hat uns viele Informationen geschickt, sodass wir davon ausgehen, systemrelevant zu sein.
Aber von offizieller Seite kamen lange vor allem Informationen zu Schulen und Kitas und keine Klarheit darüber, ob es zum Beispiel Möglichkeiten zur Refinanzierung unseres erhöhten Personalbedarfs gibt.
Dann war es unklar, wie wir innerhalb des Teams mit Ansteckungsrisiken umgehen sollen. Wie steht es um Mitarbeitende, deren Angehörige der Risikogruppe angehören? Wieviele Einschränkungen, wieviel Social Distancing nehmen Kolleginnen und Kollegen auch im privaten Umfeld auf sich, zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Kolleg_innen? So gesehen haben uns die Verordnungen der Stadt Freiburg und des Landes Baden-Württemberg mit den klaren Regelungen geholfen.
Nun beschäftigt uns die Frage, wie wir im Ernstfall mit einer Infektion im Kinderhaus umgehen sollten. Auch das Landesjugendamt war auf die Pandemie nicht vorbereitet, ein Leitfaden zum Umgang mit infizierten Kindern kam sehr spät. Doch selbst mit Leitfaden bleibt einiges offen: So können wir zwar im Falle einer Erkrankung die vier Wohneinheiten so gut es geht separieren. Andere Empfehlungen, wie beispielsweise die Versorgung von Erkrankten im Schutzanzug, sind aber bei einem achtjährigen Kind in unserem familiären Rahmen nur schwer vorstellbar. Dazu werden wir in einem konkreten Fall mit dem Gesundheitsamt ins Gespräch gehen, um Lösungen zu finden, abhängig vom Alter der infizierten Kinder.
Wie beugen sie dem Lagerkoller vor?
Das gute Frühlingswetter lässt uns unseren großen Garten ausgiebig nutzen: Der Winterschlaf des Trampolins ist jetzt endgültig vorbei und es findet sich, der "Großfamilie" sei Dank, eigentlich immer jemand zum Fußball spielen. In dieser Hinsicht sind wir gegenüber anderen wohl ein bisschen privilegiert. Dafür sind wir dankbar, weil es uns auch hilft, die emotionale Belastung in anderen Bereichen ein bisschen zu erleichtern.
Das Kinderhaus St. Raphael ist eine Einrichtung der stationären Kinder- und Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche ab acht Jahren, die derzeit nicht in ihren Herkunftsfamilien leben können. Der Trägerverein "Kinderhaus St. Raphael e.V." ist Mitglied im Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg.